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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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hielt sich die ganze Zeit vor Augen, was sie selbst ermittelt hatte, doch das würgende Gefühl in ihrer Magengrube wurde immer größer. Weiter, weiter, bis hin zur Auffahrt auf die Straße, dann rechts zum Aussichtspunkt. Dort stand er, Neil, so wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in Lederjacke und schwarzen Jeans neben seinem Leihwagen. Das Würgen legte sich ein wenig. Sie hielt neben ihm an, hupte und ließ das Fenster der Beifahrerseite ein winziges Stück herunter, damit er sah, dass sie es war. Als er einstieg, fiel ein Sonnenfleck auf den Beifahrersitz und verschwand sofort wieder.
    »Keine Witze über Frauen am Steuer«, sagte er gut gelaunt, »ich verspreche es.« Sie kannte keine Witze über Frauen am Steuer, doch sie begriff, dass er ihr die Nervosität nehmen wollte, und zog eine Grimasse.
    »Ich wollte dich ja bitten zu fahren«, gab sie zurück und tat ihr Bestes, um das erneute Flattern in ihrem Magen zu ignorieren, »aber jetzt ist es Ehrensache.«
    Zum Glück war um diese Uhrzeit nicht mehr viel los. Sie fuhr zum ersten Mal in ihrem Leben ohne Aufsicht und vor Sonnenuntergang auf einer Schnellstraße, und das allein hätte schon genügt, um ihren Mund vor Nervosität trocken werden zu lassen.
    Es könnte selbstverständlich für mich sein, dachte sie plötzlich, es sollte selbstverständlich für mich sein. Und ich weiß, wessen Schuld es ist, dass es alles andere als selbstverständlich für mich ist.
    Der ohnmächtige, aus Verrat geborene Zorn gab ihr neue Kraft. Sie schaute immer nur geradeaus, aber sie war sich bewusst, dass Neil sie die restliche Strecke nach Seward lang nicht aus den Augen ließ.
     
    »Komm schon«, sagte Neil und streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist ja kaum noch hell.«
    Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sah man in dem Dämmerlicht, das in Alaska um ein Uhr nachts herrschte, immer noch klarer als an manchen Regentagen in Boston. Aber es ging ihm darum, Beatrice zu beruhigen.
    Sie saß im Auto, eine kleine Gestalt, die mit ihren Jeans und langärmligen Handschuhen wie ein weiblicher Pierrot wirkte, der sich aus einem Kostümverleih verschiedene Kleidungsstücke zusammengestohlen hatte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie in ein frühes Bild von Picasso verschwunden wäre, in Blau getaucht, und auf einmal wünschte er sich, sie lächeln zu sehen und von den Schatten zu befreien, die hinter ihren Augen lauerten.
    »Ich habe den Test zigmal überprüft«, murmelte sie unglücklich, und als sie den Kopf hob, sah er, dass sich Tränen aus ihren Wimpern lösten. »Ich weiß, dass er gelogen hat all die Jahre. Warum hat er das getan?«
    Ihre linke Hand fuhr über ihre Augen, um die Tränen fortzuwischen, und er spürte, wie sie um ihre Selbstbeherrschung rang. Erstickt fuhr sie fort:
    »In meinem Kopf weiß ich es. Aber ich habe trotzdem Angst. Ich bin ein Feigling, Neil.«
    »Nein«, sagte er, kniete vor ihr nieder und nahm ihre beiden Hände in die seinen. Trotz der Handschuhe, trotz der sommerlichen Wärme waren sie sehr kalt, und er spürte, wie sie leicht zitterten. »Man hat dir erzählt, du hättest eine sehr seltene Krankheit und jede längere Zeit in der Sonne sei tödlich für dich. Unter den Voraussetzungen hätte ich auch Angst. Tapferkeit heißt nicht, dass man keine Angst hat. Tapfer zu sein, bedeutet, Angst zu haben und trotzdem das zu tun, was man tun möchte.«
    Sie schluckte.
    »Ich weiß, dass du tapfer bist«, sagte er und erhob sich, ohne ihre Hände loszulassen. Beatrice setzte einen Fuß aus dem Wagen, dann den zweiten.
    »Das ist lächerlich«, stieß sie hervor. »Ich war schon öfter um diese Zeit draußen, für vier oder fünf Minuten.«
    Sie gab sich einen Ruck, dann erhob sie sich.
    »Als ich klein war«, sagte Neil und zog sie Schritt für Schritt vom Auto fort, ohne hinter sich zu blicken oder sich zu fragen, ob ein nicht abgeschlossener Wagen bald Freunde finden würde, »ermordete mein Vetter Danny unsere Großtante, um sich Geld für Drogen zu beschaffen. Jeder wusste das, aber keiner konnte es beweisen. Also hockte Danny in seinem vermodernden Haus, das keiner mehr besuchte, brachte sich mit der Droge seiner Wahl auf Raten um und schoss ab und zu auf Hunde auf der Straße. Jedes Mal, wenn ich an seinem Haus vorbeiging, hatte ich Angst, er würde auch mich umbringen. Selbst, als ich schon ein Interview mit jemandem von der Mafia hinter mir hatte, war es immer noch Vetter Danny, der mir die Knie schlottern ließ.«
    Die Augen nicht

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