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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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falsch, aber glücklich Yellow Submarine zu singen. Auf der Fahrt in die Glacier Bay vertrieb der frische Wind fürs Erste die Unsicherheiten der Nacht. Beatrice studierte die Seekarten, Gezeitentafeln und den Führer für die Bucht, den sie sich in Bartlett Cove bei den Park-Rangern besorgt hatten, und musste sich eingestehen, dass sie ihr auch nach einer Woche auf See immer noch wie Gleichungen mit Variablen vorkamen, die sie noch nicht gelöst hatte. Schließlich überließ sie die Karten lieber Neil und widmete sich staunend den Bildern, die links und rechts von ihnen auftauchten.
    War schon der Portage-Gletscher ehrfurchtgebietend gewesen, so boten der Johns-Hopkins-Gletscher, der Caroll-Gletscher und der Grand-Pacific-Gletscher eine Triade, die einen endgültig auf die Knie zwang. Das kristallene wirre Haar auf dem Haupt von Riesen, umgeformt in Kathedralen, dachte Beatrice. Sie setzte die Sonnenbrille ab, die sie vorsichtshalber trug, um das Eis ohne Filter zu sehen, und kniff sofort die Augen zusammen. An einem der Gletscher zeigte sich ein leichter Riss; sie hörte ein Knirschen, und ein turmhoher Brocken, der sich aus der vorderen Front löste, rutschte in das aufschäumende Wasser.
    »Wir könnten näher herangehen«, bot Neil an. »Die behaupten hier zwar, ein Sicherheitsabstand von 800 Metern müsse ständig gewahrt bleiben, aber wie du siehst«, er nickte zu den drei, vier weiteren Booten in der Bucht, »keiner hält sich dran.«
    »Später«, sagte Beatrice, denn ein Rudel Orcas hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. So viele Wale, dass sie den Eindruck hatte, man könne über ihre Köpfe hinweg bis zum Eis laufen. Dann tauchte wieder einer von ihnen, und seine waagrechte majestätische Schwanzflosse stand wie ein Siegel zwischen ihnen und den Menschen.
    Über sich hörte sie Vogelrufe, hob den Kopf und erkannte nicht nur Möwen, sondern auch zwei Adlerpaare, Seeadler, Weißkopfadler, die über der Bucht kreisten und hin und wieder herabstießen, um sich ihren Anteil an dem Reichtum zu holen, von dem Meer und Land hier überquollen.
    »Gottes eigenes Land«, sagte Neil mit aufrichtiger Bewunderung. »Manchmal ist es das wirklich.«
    Sie starrte auf die Raubvögel über sich und setzte ihre Sonnenbrille wieder auf. Selbst mit den abgedunkelten Gläsern und an einem Tag, der nicht wolkenfrei war, zogen die Vögel jeden Zuschauer mit der Eleganz ihres Flugs in ihren Bann. Ein Stück Freiheit steckte in ihnen, das nur durch ihr Fliegen Ausdruck fand.
    »Wie ist es zu fliegen?«, fragte sie ihn. Unter anderen Umständen wüsste sie das besser als er; im riesigen menschenleeren Alaska waren Flugzeuge so gängige Verkehrsmittel wie andernorts Taxis. Doch für sie war reisen nie in Frage gekommen.
    »Sei nicht enttäuscht«, antwortete er. »Nach den ersten paar Flügen ist es so selbstverständlich wie Autofahren, mit dem Unterschied, dass der Luftdruck auf deinen Ohren größer ist. Man hat nicht wirklich das Gefühl, zu fliegen: Man wird transportiert.«
    Sie hatte sich im Glacier Bay Country Inn eine billige kleine Kamera gekauft. In Seward war keine Zeit dafür gewesen. Obwohl sie wusste, dass sich das Wesentliche, was sie von dieser Reise mitnehmen würde, ohnehin nicht auf Film bannen ließ, hatte sie nicht widerstehen können. Insgeheim befürchtete sie, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass sie nur geträumt hatte.
    Als der nächste Felsen, auf dem sich Seelöwen räkelten, nahe genug war, um auch von der kleinen Kamera erfasst zu werden, knipste sie so viel wie möglich. Auf den Eisbrocken, die sich von den Gletschern gelöst hatten und aus dem Fjord hinaustrieben, tummelten sich Seehunde, und ab und zu sah sie Tiere herumschwimmen, die sie zunächst ebenfalls für Seehunde oder Otter hielt, bis sie näher hinsah.
    Sie fragte Neil und erfuhr, dass es sich um Nerze handelte. »Wie die Russen je überredet werden konnten, diesen Staat herzugeben, weiß ich nicht«, sagte er. Mittlerweile ließ er die Bootsschraube wieder so niedrig drehen, dass sie gerade noch Kurs halten konnten, so viel gab es zu sehen. Wenn sie vom Wasser aufsah und selbst den Himmel ignorierte, dann gab es immer noch die Steilküste mit ihrem Reichtum an großartiger Natur.
    Gegen Mittag konnten sie beobachten, wie ein großer Bär mit einer Behändigkeit, die sein Gewicht verleugnete, bis an das Ufer herunterkletterte, um an das Wasser zu gelangen. Ein paar Mal glaubte Beatrice, er würde gewiss fallen oder

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