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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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erleichtert: »Endlich«, aber Beatrice hätte nicht sagen können, wie viel Zeit überhaupt vergangen war.
    Sie sah dem Bären dabei zu, wie er mit einer Schnelligkeit, die sie inzwischen nicht mehr überraschte, ein glattes, silbernes, zappelndes Etwas aus dem Fluss zog, und dann noch eines und noch eines, während ihn die Möwen ungeduldig umkreisten, weil sie auf ihren Anteil warteten. Wenn die Lachse schreien könnten, dachte Beatrice plötzlich, würden sie mir dann Leid tun? In der Stimmung, in der sie sich befand, wünschte sie jeder Kreatur die Unsterblichkeit, Bären wie Lachsen. Aber Mitgefühl für etwas aufbringen, das man selbst zum Abendessen verspeiste?
    Sobald der Bär das Interesse verloren hatte und den Möwen die Reste seiner Fische überließ, zogen auch sie mit dem Ranger weiter und wurden bis zu einer Plattform geführt, von der man über die Ebene hinweg auf den Auslauf eines Baches blicken konnte. Bereits aus der Ferne konnten sie zwei kleine Bärengruppen erkennen, die in etwa hundert Metern getrennt voneinander am Ufer des Baches standen. Was Beatrice immer wieder aufs Neue frappierte, war, wie sich die Bären voneinander unterschieden; kein einziger hatte genau den gleichen Fellton oder die gleiche Kopfform. Die Jungtiere spielten mit den Lachsen, die wirklich nur darauf warteten, aus dem handtiefen Wasser gefischt zu werden. Die Mutter dagegen schien schon größeren Appetit zu haben.
    »Oha«, murmelte der Ranger. »Ärger in Sicht.« Er deutete auf einen großen Bären, der vom Norden her auf sie zukam. Entweder rochen ihn die Muttertiere, oder sie erspähten ihn. Auf jeden Fall wurden sie sichtlich nervös, richteten sich auf und bewegten unruhig ihren Kopf hin und her. Eines von ihnen trieb seine Jungen bis unmittelbar vor die Beobachtungsplattform.
    »Die weiß ganz genau«, erklärte der Ranger, »dass wir ihren Kleinen nichts tun. Aber die großen Bären sehen in den Welpen schon mal lästige Konkurrenz, die ihre Mütter davon abhalten, sich zu paaren.«
    »Soll bei Menschen auch ab und zu vorkommen«, bemerkte Neil trocken.
     
    Für Neil war ihre Reise zu einem Geschenk geworden. Gleichzeitig wusste er, dass diese Tage nur eine Leihgabe sein konnten. Diese Zeit außerhalb der Zeit konnte nur geborgt sein. Früher oder später würde er das ändern müssen; sein Beruf, seine Anliegen, seine Sorgen und seine Fehler würden ihn wieder einholen. Victor Sanchez würde zurückkehren, denn ganz gleich, wie ungnädig Livion ihm gegenüber auch gestimmt sein mochte, sie konnten es sich nicht leisten, auf seine Dienste zu verzichten.
    Doch ihr Jetzt war diese Reise. Er wusste nicht, wann es begonnen hatte, wann er sich in Beatrice verliebt hatte; er konnte es nicht auf einen bestimmten Moment festlegen. Weil jeder einzelne Moment, den sie teilten, ihm so kostbar erschien, dass er ihn für immer festhalten wollte, ob er sie nun in den Armen hielt oder mit ihr Bären zählte, wobei sie ihm jedes Mal weismachen wollte, sie sähe mehr als er. Die Tage in den Fjorden und zwischen den Inseln von Alaska waren ein reißender, immer schneller werdender Fluss, der sich unausweichbar ins Meer stürzte.
    »Du hast natürlich einen unfairen Vorteil bei deinen Erbanlagen«, sagte er spielerisch, als sie erneut in ihrem Boot saßen, und sie schon wieder auf einem Felsvorsprung eine Bärengruppe ausmachte. Er schwor, es seien die gleichen, die sie vorher am Fluss erspäht hatten, sie bestand darauf, es wären andere.
    »Stimmt gar nicht. Meine Sehstärke ist gut, aber mehr nicht. Kann ich das Fernglas haben? Weißt du eigentlich«, fuhr sie fort, die Augen immer noch auf die Bären geheftet, »wie wichtig das für mich ist? Du behandelst… es… als so normal wie anderer Leute Haarfarbe, du ziehst mich damit auf, aber du tust nicht so, als wäre es das Alpha und Omega von dem, was ich bin.«
    Ehe er darauf eingehen konnte, fügte sie leise hinzu: »Nicht wie Warren.«
    Früher hatte sie immer nur feindselig geklungen, wenn sie Warren Mears erwähnte. Diesmal war ihr Ton neutral, und das verblüffte ihn fast so sehr wie die Implikation.
    »Mears gibt offen zu, dass er Bescheid weiß?«
    Beatrice zuckte die Achseln.
    »Aber er geht wohl nicht so weit, dass er dich in seine Forschungen einweiht, oder?«, fragte Neil und stellte zu seinem Missvergnügen fest, dass er gereizt klang. Warum, verstand er selbst nicht. Beatrice gab ihm das Fernglas zurück.
    »Nein«, entgegnete sie belustigt, ohne zu verraten,

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