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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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zu können als auf einem Boot. Aber auch in dem Dämmerzustand, in dem sie sich befand, fiel ihr auf, dass Neil wach blieb. Die Fensterläden waren geschlossen, um ihnen etwas Dunkelheit zu ermöglichen, doch sie kannte inzwischen die Art, wie er atmete, wenn er schlief, und er schlief nicht.
    »Neil«, sagte sie in die Nacht hinein, »wie alt, glaubst du, wird so ein Bär?«
    »Zwanzig Jahre im Schnitt«, erwiderte er, so schnell, dass sie überrascht die Augen öffnete.
    »Das war geraten«, fügte er hinzu, und sie ahnte das Lächeln in seinen Worten. Sie mochte seine Stimme, dunkel und warm wie die Lederjacke, die er ihr bei den Gletschern ausgeliehen hatte. »Ich bin nicht sicher, aber irgendwo steht es, aber ich kann mir Zahlen nicht gut merken.«
    »Ich war immer gut mit Zahlen«, murmelte sie. »Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen. Eine der wenigen, die ich an Mom habe. Wie sie zählt. Ein mal eins ist eins. Zwei mal zwei ist vier. Drei mal drei ist neun. Was ist deine früheste Erinnerung?«
    »Weiß nicht«, entgegnete er, wieder zu schnell, um der Wahrheit zu entsprechen.
    »Schwindler«, sagte sie. Wenn sie wacher gewesen wäre, dann hätte sie gewusst, dass es eine unangenehme Erinnerung sein könnte, etwas, mit dem er die Zeit, die sie miteinander verbrachten, nicht belasten wollte. Sie hätte seine Erklärung akzeptiert und nach etwas anderem gefragt oder die Sache auf sich beruhen lassen. Aber die Euphorie der Freiheit, des Lebens ohne Furcht vor dem Licht, die Gewissheit, dass sie für ihn kein anderer Mensch geworden war, nachdem sie ihm von ihrer Entdeckung berichtet hatte, für die ihr immer noch eine Erklärung durch ihren Vater fehlte, die neuen Eindrücke, all das vereinte sich und lullte die vorsichtige, vorausblickende Seite ihres Selbst ein. Sie wollte nicht vorausblicken. Sie wollte nur in der Gegenwart leben.
    »Ich höre sie weinen«, sagte er abrupt. »Es muss noch in Nevada gewesen sein, denn der Fußboden, auf dem ich sitze, ist aus Stein. Eine helle Fliesenplatte. Ich habe gerade in ihr Haar gefasst, sie beugt sich über mich, um mich aufzuheben, und auf einmal halte ich ganze Büschel ihrer Haare in meiner Hand, und sie weint.«
    Es war genug, um sie aus ihrer Schläfrigkeit zu reißen. Auf einmal war sie sehr wach, und sie hörte in der Stille, die zwischen ihnen eingetreten war, selbst die Insekten vor der Blockhütte. Sie hörte etwas, das sie als einen Elchruf erkannte, und sie hörte Neils unregelmäßigen Atem.
    »Eine andere Art von Abzählvers«, sagte er, und in seiner scharf gewordenen Stimme lag eine gewisse Grausamkeit. »A is for Atom, B is for Bomb, C is for Cancer, D is for Death.«
    Die Fotos in seinem Buch fielen ihr ein. Der Tod ihrer eigenen Mutter hatte sich fern von ihr abgespielt; Elaine Sanchez war in einem Krankenhaus in Anchorage gestorben, und aus der Zeit davor wusste Beatrice so wenig, dass es ihr wie Wasser vorkam, das ihr zwischen den Fingern zerrann, wenn sie es aus dem Fluss ihrer Erinnerungen schöpfen wollte. Aber er, er hatte das jahrelange Sterben seiner Mutter miterlebt. Plötzlich überkam sie Mitleid mit dem Kind Neil, das sie nicht mehr erreichen konnte. Die Betten in der Blockhütte standen dicht nebeneinander, und ohne weiter darüber nachzudenken, setzte sie sich auf, machte den Schritt zu ihm hinüber und kniete neben seinem Bett nieder. Er hatte die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und starrte zur Decke, als sie ihn küsste.
    Es war ihr erster Kuss, ungeschickt, ungeübt und aus dem Impuls geboren, ihn zu trösten. Aber seine Lippen öffneten sich unter ihren, und plötzlich lagen seine Hände auf ihrem Haar, ihre Knie waren weich, und sie bekam keine Luft mehr.
    Er ließ sie wieder los.
    »Tut mir Leid«, flüsterte Beatrice und wusste nicht, ob sie den Tod seiner Mutter oder den Kuss meinte. Hastig kehrte sie in ihr Bett zurück.
    Keiner von ihnen schlief sehr viel in dieser Nacht.
     
    »Die Sache ist geritzt«, sagte Mike am nächsten Morgen, als er ihnen ihr Rührei servierte. »Mein Vetter hat euch für morgen auf die Liste eingetragen. Und noch was. An eurer Stelle würde ich mir auf Admiralty Island zwei Kajaks mieten und die Küste entlangpaddeln. Da leben an die zweitausend Bären, und damit sie sich in Ruhe entwickeln können, darf man mit dem Motorboot nur die wenigsten Plätze anfahren.«
    Sie dankten ihm überschwänglich, während er sie mit dem Auto zu ihrem Boot brachte, und ließen sich überreden, mit ihm

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