Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
Ankunft von Furcht.
    »Verstehst du«, sagte er zu ihr, »wir müssen alle unsere Väter ermorden. Ich habe meinen nur auf Besuchen erlebt, und er war nicht mehr nüchtern, seit meine Mutter ihn verlassen hat. Aber ich habe ihn nicht getötet, und jetzt frisst er mich von innen auf und macht mich zu ihm. Du musst deinen töten, ehe dir das passiert.«
    Sie schüttelte den Kopf und wölbte die Handflächen zu einer Schale. Wasser schwamm darin, eiskaltes graublaues Wasser wie in den Fjorden, und sie sagte: »Ich bin das Leben, nicht der Tod. Eine unendliche Kette aus möglichen Verbindungen, Neil. Zerstörung hilft niemandem. Trink, und tu dies zu meinem Gedächtnis.«
    Als sein Mund das Wasser in ihrer Hand berührte, färbte es sich rot, und er schmeckte die kupferne Salzigkeit von Blut.
     
    Wieder erwachte er aus einem Albtraum. Die Sonne schien, was ihn zunächst nicht verwunderte, bis ihm wieder einfiel, dass er sich nicht mehr in Alaska befand und dem Stand der Sonne nach die Nacht schon eine beträchtliche Weile zurücklag. Vielleicht hätte er die Schlaftablette nicht nehmen sollen, doch er hatte weder in der Haft in Alaska noch nach seiner Rückkehr nach Boston richtig schlafen können.
    Das Telefon läutete, und ihm wurde bewusst, dass ihn dieser Laut aus dem Schlaf gerissen haben musste. Eine Versuchung, seine Anwesenheit zu leugnen, vor allem nach dem wütenden Gespräch mit seinem Agenten am Vortag und den entsetzten Anrufen seines Anwalts, der am Ende sein Mandat niedergelegt hatte. Aber die Möglichkeit bestand, dass es Beatrice war, und das konnte er nicht ignorieren.
    Er achtete nicht auf das Display, als er auf die Annahmetaste drückte, wie er es getan hätte, wenn er wacher gewesen wäre.
    »Ja?« Er hörte ein leichtes Klicken in der Leitung, wie jedes Mal, wenn er das Telefon benutzte. Es überraschte ihn nicht mehr; mittlerweile erwartete er, abgehört zu werden.
    »Neil«, sagte die Stimme seiner Exfrau, nur seinen Namen. Ihrer Stimme fehlte die übliche Gewandtheit, jeder Ärger und jene Ironie, die ihm zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens von ihr vertraut waren. Sie klang wie gesprungenes Glas.
    Er hatte sich ein Dutzend guter Gründe zurechtgelegt, warum er sie trotz ihrer Mail noch nicht angerufen hatte, warum er ihren Namen entgegen der Wahrheit dem Chronicle genannt oder zumindest nicht ausgeschlossen hatte. Während er in der vergangenen Nacht die Nachrichten verfolgte, während der Pressesprecher von Livion verkündete, man habe sich in allem und jederzeit an das Gesetz gehalten und gewiss für den Fall einer Änderung Pläne, aber nicht mehr, während FOX TV und CNN Kurzviten von Neil sendeten, die ihn als Paranoiker ohne Wirklichkeitskontakt und als Terroristenfreund darstellten, war es erstaunlich leicht gewesen, den Gedanken an Deirdre zu unterdrücken. Was die Kinder sagen würden, wenn sie diese Nachrichten sahen, ließ sich weniger leicht verdrängen, aber er sagte sich, dass sie eine ähnliche Welle der Empörung schon einmal nach der Veröffentlichung des Guantánamo-Buches erlebt hatten. Da bisher weder Mears noch Sanchez von Livion präsentiert worden waren, um das Dementi durch eigene Worte zu unterstützen, von Beatrice ganz zu schweigen, gab es im Netz mehr und mehr Stimmen, die Neils Thesen glaubten oder sie zumindest in Erwägung zogen und eine Untersuchung forderten. Der Kurs der Livion-Aktien war jetzt auf ein Fünf-Jahres-Tief gefallen und die Empfehlungen der Broker von Kaufen auf Neutral zurückgestuft. Zumindest dort schien es ihm gelungen zu sein, Armstrong und seine Helfershelfer unter Druck zu setzen, sagte sich Neil. Irgendwann würde das dazu führen, dass sie sich zu einer Erklärung in Sachen Beatrice bequemen mussten.
    Das Kartenhaus aus Rechtfertigungen, das er sich gebaut hatte, geriet ins Wanken, als er Deirdres brüchige Stimme hörte. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie ihn anschrie; darauf war er gefasst, dagegen hatte er sich gewappnet.
    »Es tut mir Leid, Dede«, sagte er und registrierte kaum, dass er zum ersten Mal seit der Anfangszeit ihrer Ehe diesen alten Kosenamen gebrauchte. »Aber es musste sein.«
    Immer noch veränderte sich ihr Tonfall nicht. Sie wurde nicht lauter, sie wurde nicht heftiger. »Ben hat gestern einen Unfall gehabt«, sagte sie. »Er liegt im Koma.«
    Das Aufnahmegerät, das wie der Virus in seinem Computer alle Daten per Satellitentransfer in ein Büro unweit von Washington übertrug, schaltete sich erst aus, als

Weitere Kostenlose Bücher