Götterdämmerung
Ich habe gerade eine Rolle in einem echten Kinofilm erhalten. Nicht die Hauptrolle, aber mindestens fünfzehn Dialogminuten sind schon drin. Das könnte den Absprung aus den Seifenopern bedeuten, aber nicht, wenn ich alle Welt durch einen Prozess daran erinnere, dass ich mal mit jemandem zusammen war, der an AIDS gestorben ist. Dann gelte ich als tickende Zeitbombe. Nicht um alles in der Welt«, verkündete Andrew Tevlin energisch.
»Tja, ich würde Ihnen schon gern helfen«, sagte Mrs. Edgarson traurig, »aber ich kann’s mir nicht leisten, verstehen Sie?«
Ehe er auflegte, hörte er sie flüstern: »Sie haben meinem Jungen einen Platz in einer New Yorker Klinik angeboten, ganz kostenlos, als Teil eines Programms. Bitte, verstehen Sie mich.«
In einem Winkel von Neils Bewusstsein dämmerte ihm, dass er sich mittlerweile vollkommen unprofessionell verhielt. Eine goldene Regel des Journalismus lautete, sich eine bestimmte Story auszusuchen und bei ihr zu bleiben. Nicht drei oder vier, zwischen denen man hin und her sprang. Außerdem gab es wenig, das gefährlicher war als ungestützte Behauptungen. Bisher hatte immer eine Redaktion oder ein Verlag hinter ihm gestanden, und das Recht auf Meinungsfreiheit, das Medienorganisationen für gewöhnlich den Rücken freihielt. Aber wenn er sich an die alten Regeln hielt, dann konnte es sehr gut sein, dass er von Beatrice erst wieder hören würde, wenn irgendwann in Alaska eine Leiche gefunden wurde. Er würde für ihren Tod verantwortlich sein, und die Vorstellung konnte er nicht ertragen. Wäre er nicht in ihrem Leben aufgetaucht, dann wäre sie zwar weiter bei Livion, aber in Sicherheit.
Mittlerweile lebte er nur noch von Kaffee. Er konnte nicht schlafen, nicht entspannen oder sich gehen lassen. Eine Überlegung jagte die andere, und er spürte nichts mehr als seinen fliegenden Puls. Das Netz, ja, das Netz war der Ausweg.
Dank des Patriot Acts konnte der Staat das Internet offen überwachen. Doch die natürliche Anarchie des Netzes ermöglichte es erfinderischen Betreibern immer wieder zu veröffentlichen, was sie wollten. Natürlich besaßen über das Netz verbreitete Nachrichten nicht die höchste Glaubwürdigkeit, was Neil früher auch nie gewundert hatte, da es im Internet von UFO-Erscheinungen und Elvis-Auferstehungen nur so wimmelte.
Das World Wide Web war seine letzte Möglichkeit. Er scannte die Fotos ein, die er in Alaska von Beatrice gemacht hatte; sie waren nicht beschlagnahmt worden, weil der Film sich beim Entwickeln verspätet hatte. Er schrieb über Sanchez’ Leben, seine Vermutungen über die laufenden Projekte, den Inhalt ihres Interviews und dokumentierte die Patente, die Sanchez und Mears eingereicht hatten. Mit Hilfe einiger Helfer aus dem Cyberraum befand sich bald alles Wesentliche überall im Netz und nicht nur auf einer Website. In Foren und Chaträumen installierte er Links und lud zur Diskussion ein, sooft er sich die Zeit nehmen konnte.
Sehr gut möglich, dass ihm sein Agent so weit nicht mehr folgen und sich weigern würde, ihn weiter zu vertreten. Aber, dachte Neil und spürte nichts als das Fieber, in das ihn das Bedürfnis brachte, die Wahrheit freizulegen, sein Groll gegen Potentaten, seine Gefühle für Beatrice und der Hass auf das Doppelgestirn dort in Alaska; im Netz würde man seine Thesen über die Art und Weise, in der Big Pharma die Ausmerzung von Krankheiten als geschäftsschädigend betrachtete und in Therapien nur ein Mittel zur Schaffung von Abhängigkeit sah, begierig aufnehmen. Zumindest hier würde man ihm glauben. Krieg war Krieg. Es entsprach nur der allgemeinen Doktrin, die ihnen allen gepredigt wurde, dass im Krieg für eine gute Sache Opfer gebracht werden mussten und alle Mittel erlaubt waren.
Am frühen Morgen schlief er erschöpft ein.
* * *
Er ging mit ihr die Hauptstraße von Opelousas entlang, dem Hauptort des St.-Landry-Bezirks, in dem er aufgewachsen war. Durch die verstaubten Fenster der Geschäfte, die im Zeitalter der Einkaufszentren nicht mehr überleben konnten, beobachteten die langsam vermodernden Schaufensterpuppen mit ihren silberglitzernden Kleidern aus den frühen Siebzigern ihn und seine Begleiterin, drehten langsam die Köpfe. Eine der Puppen streckte ihre Hand durch die Schaufensterwand hindurch, die auseinander wich wie Wasser, und griff nach Beatrices Haar.
Beatrice machte sich von den Plastikfingern frei, doch auf ihrem Haar blieb Staub zurück, und er spürte die langsame
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