Götterdämmerung
ihr wieder zurück, wie Mears sie betäubt hatte. Man glaubte, auf alles gefasst zu sein, und stellte fest, dass man immer mit noch Schlimmeren rechnen musste. Gut, anderer Meinung zu sein als Livion war eines, und die meisten Sicherheitsmaßnahmen eines Labors, das an lukrativen Zukunftsprojekten arbeitete, von denen der Wettbewerb und möglicherweise auch die aktuelle Gesetzgebung nicht unbedingt alles wissen musste, waren ihr immer als sehr nachvollziehbar erschienen. Doch Livion hatte über seinen zentralen Server ohnehin jeglichen Zugriff auf all das, was auf den Rechnern im Labor geschah. Sie zweifelte plötzlich, ob die Zentrale überhaupt wusste, dass ihr eigenes Überwachungsprogramm ebenfalls überwacht wurde. In Anbetracht der ganzen Entwicklung erschien es ihr jedoch sinnlos, jemanden danach zu fragen.
Es waren natürlich Mears’ Projekte, die als Rechtfertigung dafür dienten, dass alle Mitarbeiter nicht mehr nur vom Konzern, sondern auch von staatlichen Organen überwacht wurden, und das mit einer Gründlichkeit, die sie an George Orwell erinnerte. Die nationale Sicherheit, sagte sie sich, aber sie konnte es nicht mehr glauben. Ein Satz verfolgte sie und wiederholte sich im Rhythmus ihrer hämmernden Kopfschmerzen immer wieder: Risiken dämmt man ein.
Risiken. Eindämmung. Stillstellung. Obwohl sie ihren Laptop längst wieder heruntergefahren hatte, schienen die Worte vor ihr auf dem Bildschirm zu tanzen. Was verstand man darunter bei Livion oder den Überwachern? War an der Drohung gegen Neils Kinder doch mehr gewesen?
Das Motto von Liebesgrüße aus Los Alamos, Neils Juvenal-Zitat, ließ sich nicht mehr aus ihrem Kopf verbannen, und sie bildete sich beinahe ein, seine Stimme zu hören, während sie auf den toten, blinden Bildschirm starrte. Wer wacht über die Wächter?
Sie wusste von ihrem Vater zwischenzeitlich von ihrem Wert für Livion, aber was, wenn dem Konzern irgendwann das Risiko höher als ihr Nutzen erschien?
Wie ist das bei anderen, wenn einem die eigene Welt von einem Tag auf den nächsten zusammenbricht, fragte sie sich und hätte gerne mit Neil darüber gesprochen. Doch auch jenseits aller Versprechen war er derzeit so unerreichbar für sie wie die südliche Sonne. Es gab keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren, ohne gleichzeitig ein Dutzend Lauscher auf den Plan zu rufen. Auch er wurde mit Sicherheit überwacht; wenn sie ihm eine Mail schickte, dann nützten ihr der Laptop und Warrens Kennung auch nichts mehr. Früher hatten nur Meilen und die Scheu vor dem Unbekannten zwischen ihnen gelegen; nun waren es Schlingen aus Überwachung und Schuldgefühlen.
Immerhin gab es dies: Pläne, um sich den Schlingen ein für alle Mal zu entziehen.
Sie erschien zu ihren morgendlichen und abendlichen Kontrollen bei Mears ohne ihren Vater. Es genügte, wenn einer von ihnen beiden gedemütigt wurde, während sie ihre Flucht vorbereitete.
»Wie geht es dir heute Morgen?«
»Gut«, entgegnete sie monoton, da sie lieber gestorben wäre, als ihm gegenüber die Kopfschmerzen zu erwähnen.
»Wir werden sehen.«
Am dritten Tag bat er sie um eine Blutprobe.
»Es ist so viel einfacher so, nicht wahr? Wir hätten dieses Arbeitsklima schon immer haben können, wenn du vernünftig gewesen wärest.«
»Ja, Warren«, erwiderte sie. Offenbar dachte er, ihre Gefügigkeit sei sarkastisch gemeint. Seine Finger, die über ihrem zurückgekrempelten Ärmel verharrten, hielten plötzlich inne. Sie spürte die Wärme seiner Hand durch die dünnen antiseptischen Plastikhandschuhe, die er trug.
»Es geht mir um den Schutz unseres Landes«, sagte er langsam. »Es ist mir immer nur darum gegangen. Das begreifst du doch inzwischen oder etwa nicht? Es ist ja nicht so, als ob eine Wahl zwischen dir und anderen bestünde. Du bist noch einzigartig.«
Sie erwiderte nichts, da sie ihrer Selbstbeherrschung nicht genügend vertraute. Einen Streit mit Mears konnte sie sich jetzt nicht mehr leisten. Er wartete noch eine Weile. Als er begriff, dass sie nicht antworten würde, zuckte er die Achseln und nahm sich seine Blutprobe. Beatrice kehrte so schnell wie möglich zu dem zurück, was für sie das Licht am Ende des Tunnels geworden war.
Ihr Laptop, der nicht in das System des Labors integriert war, verfügte über ein paar hilfreiche Programme, die sich für ihre Fluchtvorbereitungen nutzen ließen. Ihr Vater hatte ihr nach seiner Miami-Reise und ihrer Aussprache eine Reihe von Dokumenten ausgehändigt: Papiere, die er in
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