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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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letztendlich? Was in seinen Labors ausgekocht wurde, konnte den Konzern in den Ruin treiben, nicht den Staat.
    Nicht den Staat. Nicht den Staat? Neil schaute auf die braune, kaum gewellte Flussoberfläche und musste sich plötzlich auf die Reling stützen. Er kam sich vor, als habe man ihm einen Fußtritt in den Magen versetzt. Natürlich. Er hatte den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Beatrice hatte es ihm erzählt, hatte es ihm längst erzählt, aber er hatte es nicht verstanden, inmitten aller anderen Eröffnungen und Theorien war es ihm nicht mehr als ein weiterer Beweis für die Skrupellosigkeit gewesen, die er den Mächtigen schon seit langem zuschrieb. Er hatte das, was sie sagte, nie richtig an sich herangelassen.
    Das Stimmengewirr um ihn herum, die anderen Passagiere. Ausländer, Touristen aus England und Frankreich und Japan, Amerikaner mit der pointierten Aussprache der Neuengland-Staaten, die nasalen Laute aus den Bronx, die breite, schleppende Redeweise des Südens, mit der er aufgewachsen war, das singende Englisch von Indern oder Pakistanis - wer konnte das sagen? Alle Brüder unter der Haut. Der genetisch vermischten Haut. Warren Mears und sein Projekt, sein Projekt, das isolieren wollte, was sich doch nicht isolieren ließ, was gegen sämtliche menschlichen Maßstäbe verstieß und doch staatlich abgesegnet sein musste. Keiner der Leute hier, niemand in Amerika wäre jemals bereit, eine Regierung zu dulden, deren Mitglieder bei so etwas mitmachten.
    Nixon fiel ihm ein, die Fernsehberichte, die er damals verfolgt hatte, das schwitzende, störrische Gesicht, die wachsende Ungläubigkeit der Nation, je mehr von der Watergate-Affäre bekannt wurde. Wenn eine so simple Abhöraktion einen Präsidenten stürzen konnte, was würde dann erst die Entdeckung einer solchen Ungeheuerlichkeit weltweit bewirken?
    Ihn vor allen anderen hätte das nicht überraschen dürfen. Im Grunde war das Verhalten der Verantwortlichen, die Mears zu diesem Projekt ermächtigt hatten, nichts anderes als die Fortsetzung der Haltung, an der seine Mutter so früh gestorben war. Durchaus entbehrliche Teile der Bevölkerung, hatten sie damals in ihren Memos geschrieben und dachten heute noch genauso.
    Er hätte es schon längst sehen müssen.
    Wests Stellvertreter in Alaska, das war nur ein Rädchen im Getriebe. Aber die Großfahndung durch mehrere Staaten, der Einsatz der Special Forces, das bedeutete, dass hier weit mehr auf dem Spiel stand. Armstrong und seine Yachtpartien mit dem Verteidigungsminister.
    Secretary of Defense.
    Seek Death.
    Neil wurde übel. Er erbrach sich in die braunen, geduldigen Fluten des Mississippi, würgte, bis er glaubte, nichts mehr im Leib haben zu können. Das Zittern, das ihn erfasste, wollte nicht aufhören.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine ältere Dame besorgt und zückte ihr Taschentuch, um ihm die Stirn abzutupfen. Er spürte das Leinen auf seinem Gesicht, die Schweißperlen, die leichte Brise, die den Fluss herabwehte.
    »Danke, es geht schon wieder«, flüsterte er.
    Er erinnerte sich an ein Interview, das er vor Jahren mit Clinton geführt hatte. »Macht«, hatte der Mann aus Arkansas gesagt, »Macht zehrt selbst unter günstigsten Umständen an der Seele.«
    Neil war ein Narr. Er hätte sich von dem Moment an, als Beatrice Mears’ Forschungsvorhaben erwähnte, auf die ungeheuerliche Konsequenz, die eine Realisierung des Projekts bedeuten konnte, konzentrieren müssen, Sanchez hin, Sanchez her. Ben wäre dann noch am Leben. Die Existenz solcher offensiven biologischen Waffen stürzte heute jede Regierung, ganz gleich, wo und wie tief sie im Sattel saß. Und hier handelte es sich offensichtlich nicht um eine lokal begrenzte Waffe, sondern um eine, die zwangsläufig weltweit angewendet werden würde. Im Grunde war es da belanglos, ob außer dem Verteidigungsminister noch ein weiteres Mitglied der Administration Bescheid wusste. So etwas blieb nicht an einer Hand haften. Wenn es Beweise gab, rechtfertigte das auch jeglichen Aufwand der Verfolgung und erklärte das Militär.
    Eine Entscheidung, hatte Beatrice geschrieben. Es ginge um eine Entscheidung, die sie selbst treffen müsse. Er konnte verstehen, warum sie direkt nach Bens Beerdigung nicht mit ihm darüber reden wollte, aber nur darum musste es sich handeln. Sie hatte bei ihrer Flucht Beweismaterial mitgenommen. Natürlich musste sie wissen, dass man versuchen würde, sie zu erpressen, mit dem Leben ihres Vaters vermutlich. Das

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