Götterdämmerung
auf.
»Ich, äh, bin nämlich, also ich glaube, Mr. Brodie, ich bin homosexuell. Stört Sie das?«
Neil LaHaye war in Cambridge verpflichtet gewesen, auf derartige Eröffnungen pädagogisch einfühlsam zu reagieren. Jim Brodie dagegen war zu nichts verpflichtet und außerdem als Rüpel festgelegt.
»Jonathan, von mir aus kannst du es mit Schafen treiben, solange du es leise tust.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann beging Neil den Fehler, zur Seite zu schauen. Die Wangen des jungen Anhalters waren scharlachrot gefärbt, er schluckte schwer und bemühte sich offenbar krampfhaft, nicht zu weinen. Neils soziales Gewissen setzte augenblicklich ein.
»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich bin nur«, er versuchte, eine Brodiegemäße Umschreibung zu finden, »ziemlich unter Stress zurzeit.«
»Ich ha-habe solche Angst gehabt, es jemandem zu sagen«, stieß Jonathan Levinson hervor, »nicht mal meine Familie weiß es. Sie… Sie sind der Erste und Sie…«
Die Delta Force war hinter ihm her, sein Leben in Gefahr, und er musste sowohl Beatrice als auch sich selbst retten und gleichzeitig Bens Tod rächen, aber das Schicksal mit seinem üblichen Sinn für Ironie verdonnerte ihn dazu, für einen wildfremden Jugendlichen Erziehungsberater zu spielen.
»Okay«, sagte Neil und hoffte nur, nicht völlig aus der Rolle zu fallen, »vergiss die erste Antwort. Die richtige Antwort lautet: Nein, es stört mich nicht, aber selbst wenn es mich stören würde, sollte dir das egal sein, weil nämlich der einzige Mensch, den das etwas angeht, du selbst bist. Alles klar?«
Der Junge schluckte erneut und nickte. Neil hatte es sich eben wieder, so gut es ging, auf dem alten Beifahrersitz, dessen Federn man im Gesäß deutlich spüren konnte, so bequem wie möglich gemacht und die Augen geschlossen, als Jonathan fragte: »Sie…. sie sind nicht zufällig auch…?«
»Nein.«
Als er Jonathan in St. Louis, Missouri, absetzte, hatte er das Gefühl, für sämtliche vernachlässigte Studenten während seines letzten Semesters bezahlt zu haben. Gleichzeitig empfand er Dankbarkeit. Sich um wildfremde und doch so alltägliche Probleme kümmern zu müssen, war immer noch besser, als ständig in ein Grab hineinzustarren. Außerdem waren sie einmal angehalten worden, aber von einem einfachen Streifenpolizisten, der Jonathans Führerschein sehen wollte und sie mit einem Kopfschütteln weiterfahren ließ. Trotzdem war Neil noch eine ganze Weile der Schweiß den Rücken heruntergeronnen, während Jonathan über seinen ersten Selbstmordversuch in der Abschlussklasse berichtete.
Nachdem er seinen Anhalter losgeworden war, besorgte sich Neil ein Ticket für den Dampfer nach New Orleans. Sein Geld ging zur Neige; für eine Kabine langte es noch, doch er hoffte, dass Onkel Owen zurzeit keine Durststrecke durchlief. Er hatte eigentlich damit gerechnet, den Wagen wieder verkaufen zu können, versenkte ihn aber letztlich lieber im Mississippi, um keine Spuren zu hinterlassen. Mit etwas Glück glaubten seine Verfolger inzwischen, dass er den Süden aufgegeben hatte, doch Vorsicht war angebracht.
Jetzt musste er sein Äußeres ein weiteres Mal verändern; Jim Brodie würde niemals mit einem Touristenkahn den Mississippi hinunterschippern. Er rasierte sich den Kopf gänzlich, behielt aber den Drei-Tage-Bart und entschied, den europäischen Touristen zu spielen. Englisch mit französischem Akzent zu sprechen, war für ihn nicht schwer, aber das machte auch eine neue Ausstattung notwendig.
Erst als er auf dem Schiffstand, mit einer Wegwerfkamera, und gelegentlich so tat, als fotografiere er, fand er die Zeit, ungestört nachzugrübeln. Die Nachrichten hatten ihm immerhin eines verraten, jeden Tag, an dem er sie hörte: Man suchte immer noch nach dem Terroristen und seiner Komplizin. Beatrice war also auf freiem Fuß. Er sagte sich, dass er in ihrem Interesse erst gar nicht nach Miami fahren sollte. Das würde die Gefahr für sie, gefasst zu werden, nur erhöhen. Aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, sie nie mehr wiederzusehen. Nicht jetzt, nicht, nachdem sie zu ihm zurückgekehrt war und ihm wieder Gründe gegeben hatte, weiterzuleben.
Aber noch einmal. Warum die Delta Forces? Warum Colonel Wests Adjutant? Nicht der Sicherheitsdienst von Livion und die normale Polizei oder der Sicherheitsdienst von Livion und ein paar Jungs von der CIA, sondern ein Aufwand, wie man ihn nur bei gefährlichsten Staatsfeinden betrieb. Wie rechtfertigte Armstrong das
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