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Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Titel: Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Schimpfworte Erwachsener nachsprechen, ohne deren Bedeutung zu verstehen.
    In seiner Verwirrung hatte Farr nach Direktor Morcelli Ausschau gehalten, und als er ihn schließlich ausfindig gemacht hatte, waren sich ihre Blicke kurz begegnet. Natürlich konnte er sich aufgrund der Entfernung auch getäuscht haben, aber Farr hatte tatsächlich den Eindruck, dass dem Zirkuschef der Auftritt seiner Schützlinge nur wenig Freude bereitete. Morcelli hatte sehr ernst dreingeschaut, fast so, als wäre ihm das Ganze peinlich.
      
    »Mr. Morcelli, könnte ich Sie einen Augenblick allein sprechen?«
    Die Premierenfeier war bereits in vollem Gange und das Probenzelt erfüllt von Stimmengewirr, Gelächter und dem Klingen der Gläser.
    »Selbstverständlich, Colonel.« Der stämmige Italiener, dem Frack, Seidenhemd und Fliege wie auf den Leib geschneidert schienen, erhob sich und hakte seinen Gast unter. Sie verließen das Zelt durch einen Nebenausgang und traten hinaus auf den Festplatz, der neben dem Hauptzelt auch den Wagen der Tierschau, den Kassenhäuschen und weiter hinten einer ganzen Reihe von Wohnwagen Platz bot.
    »Noch einmal vielen Dank, Colonel, für Ihre Gastfreundschaft. Ihre Leute sagen, sie könnten das Rotatron bis morgen früh in Ordnung bringen. Aber so eilig haben wir es nach dem Erfolg der Premiere eigentlich gar nicht mehr. Vielleicht gestatten Sie uns doch noch die eine oder andere Vorstellung?«
    »Von mir aus gern«, erwiderte Farr nachdenklich. »Aber das hängt bedauerlicherweise nicht nur von unseren Wünschen ab.«
    »Wie meinen Sie das, Sir?«
    »Leider darf ich Ihnen im Moment nicht mehr sagen, Mr. Morcelli«, wehrte Farr ab. »Aber Sie können mir im Gegenzug vielleicht etwas über Ihre Spaßvögel erzählen. Ich habe sie bei der Feier eben gar nicht entdecken können …«
    »Sie haben es also bemerkt, Sir.«
    Farr nickte.
    »Das ist eine traurige Geschichte und leider kein Ruhmesblatt für die Familie«, erklärte der Direktor bekümmert. »Kommen Sie, Colonel. Ich muss Ihnen etwas zeigen.«
    Farr folgte ihm hinüber zur anderen Seite des Platzes, wo sich Wagen an Wagen reihte.
    Im Schein der Laternen konnte man bunte Aufschriften von zumeist fremdartig klingenden Namen erkennen. Es roch nach frischer Farbe, Öl und gelegentlich nach den Ausdünstungen von Tieren.
    »Hier ist es«, erklärte sein Gastgeber mit gedämpfter Stimme und hob die Plane eines Wagens so weit an, dass Farr hineinschauen konnte. Es war ein sehr großer Wagen, dessen vordere Front vergittert war. Im Hintergrund drängten mehrere fast laublose Bäume ihre kahlen Äste empor. Und auf diesen Ästen hockten – Engel.
    Das jedenfalls war Farrs erste Assoziation beim Anblick der zartgliedrigen Geschöpfe, aus deren Schulterblättern tatsächlich weiße Engelsflügel wuchsen. Ihre Oberkörper wirkten graziös und fast vollkommen menschlich, wenn da nicht die verkümmerten Ärmchen gewesen wären, die in winzigen Vogelklauen endeten. Die unteren Extremitäten erschienen etwas kräftiger, ähnelten aber dennoch eher Storchenbeinen als menschlichen Gliedern. Ähnliches galt für die vergleichsweise kleinen Köpfe, die mit ihren gebogenen Schnäbeln eindeutig vogelartig wirkten, jedoch von einem dichten Haarschopf eingehüllt wurden, der die Geschöpfe bei flüchtigem Hinsehen tatsächlich fast wie Engel aussehen ließ.
    »Sie schlafen glücklicherweise schon«, flüsterte Morcelli seinem Gast zu. »Die Vorstellungen strengen sie immer sehr an.«
    »Wieso ›glücklicherweise‹?«
    »Weil sie sonst wohl Ihre Uniform wechseln müssten, Colonel. Die Harpyien nehmen Störungen zumeist sehr ungnädig auf.« Morcellis Stimme klang eher bedauernd dabei als amüsiert.
    »Es sind Chimären, nicht wahr«, sagte Farr später, als sie die schlafenden Vögel wieder der Dunkelheit überlassen hatten. Es war nicht unbedingt eine Frage.
    »So nennt man das wohl«, erwiderte der Direktor unglücklich. »Ich weiß, dass es nicht richtig ist, mit diesen bedauernswerten Geschöpfen Geschäfte zu machen, aber die Vorstellungen sind – so merkwürdig das klingen mag – das Einzige, was ihnen Spaß zu machen scheint.«
    »Sind sie schon länger bei Ihrer Truppe?«, wollte Farr wissen.
    »So lange ich denken kann, Colonel. Sie gehörten schon zu Zeiten meines Großvaters dazu und, soviel mir bekannt ist, noch einige Generationen länger.«
    »Dann müssten sie uralt sein.«
    »Natürlich nicht, Sir. Ihr Nachwuchs stellt sich mit der Zuverlässigkeit

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