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Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Titel: Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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bis ans Ende der Welt reisen müssten?«
    »Vielleicht.«
    »Oder an einen Ort, an dem unsere Gesetze und Moralvorstellungen nichts zählen?«
    Raymond Farr nickte überrascht. Balinas hatte tatsächlich »unsere« gesagt … Was die Angels von ihm erwarteten, hatte er schon gestern Abend begriffen. Und zweimal hintereinander ließ er sich keinen Schrecken einjagen. Dennoch war er froh, dass das Zittern diesmal ausblieb.
    »Dann sollten Sie bald aufbrechen, Bruder Soldat.«
    »Ja, Bruder Angel«, erwiderte Farr in einem Anflug von Galgenhumor.
    Aber da war der Mann mit der Sonnenbrille bereits verschwunden.
    Raymond Farr verließ die Kapelle nicht sofort, sondern ging nach vorn und warf eine Münze in den Opferstock. Dann zündete er eine Kerze an und blieb noch eine Zeit lang mit gesenktem Kopf stehen. Natürlich dachte er an Miriam dabei und fragte sich, ob er sie wiedersehen würde. Er teilte den Glauben der Patres nicht, und so richteten sich seine Wünsche und Hoffnungen an niemanden Bestimmten. Erst später begriff er, dass das auch nicht nötig war.
    Als er sich schließlich umwandte, um hinauszugehen, blieb sein Blick an einem zerknitterten Stück Papier hängen, das unter der vordersten Bank am Boden lag. Zufällig? Farr glaubte nicht daran. Vorsichtig hob er es auf und strich das Papier glatt, bevor er es ins Licht hielt. Es enthielt nur zwei Ziffernfolgen, die jemand mit Bleistift untereinandergekritzelt hatte. Die Ziffern waren in Gruppen angeordnet, aber dieser Hilfestellung hätte es gar nicht bedurft. Raymond Farr war sofort klar gewesen, dass es sich dabei um Koordinaten handelte, und er ahnte, wohin sie ihn führen würden. Dennoch blieben Fragen. Warum dieses Versteckspiel und woher hatte Balinas überhaupt gewusst, dass er die Kapelle nicht sofort nach ihrem Gespräch verlassen würde? Konnte er tatsächlich in die Zukunft sehen?
        

Sturmzeichen

    Als Farr die Kapelle verließ, fand er Pater Markus in Gesellschaft eines älteren Mannes, dessen Bart und Haartracht auf ein Leben jenseits der Zivilisation schließen ließ. Offenbar handelte es sich um einen der beiden Patres, die hier oben siedelten und sich nebenbei um die Kapelle kümmerten.
    Als er Farrs ansichtig wurde, erwiderte er dessen Gruß zwar mit einem Kopfnicken, schien es aber plötzlich sehr eilig zu haben. Bevor der Grauhaarige sich zum Gehen wandte, warf er dem Ankömmling noch einen misstrauischen Blick zu und bekreuzigte sich danach hastig, als hätte ihn etwas erschreckt.
    »Pater Johannes ist mit den Jahren wohl ein wenig menschenscheu geworden«, suchte Pater Markus das seltsame Gebaren des Alten zu entschuldigen, der inzwischen außer Hörweite war.
    »Mag sein«, erwiderte Farr achselzuckend. »Immerhin informiert er Sie ja wohl recht zuverlässig. Woher wusste er überhaupt von dem Besucher? Hat er ihn in die Kapelle hineingehen sehen?«
    »Das weiß ich nicht«, gab der Ordensmann zu. »Und Pater Johannes würde es mir auch nicht sagen. Er hat ein Schweigegelübde abgelegt.«
    »Seltsam«, murmelte Farr, entschloss sich dann aber, das Thema zu wechseln. »Was hat es eigentlich mit diesem Fensterbild auf sich? Ich meine den Heiligen, der sich mit den Vögeln unterhält?«
    »Die Vogelpredigt?«, erwiderte der Pater erstaunt. »Wie kommen Sie darauf?«
    »Weil das Bild offensichtlich etwas damit zu tun hat, weshalb sie gerade diesen Ort – eben die Kapelle – als Treffpunkt ausgewählt haben.«
    »Nun …« Pater Markus zögerte. »Der heilige Franziskus predigte den Vögeln, weil er sie als geliebte Mitgeschöpfe in der unendlichen Gnade des Herrn ansah. Und sie hörten ihm zu und verstanden seine Worte – auf ihre Weise.«
    »Nicht sehr schmeichelhaft, dieser Vergleich«, bemerkte Farr trocken.
    »Ich glaube, das hätte der Heilige Franziskus anders gesehen. Denn er predigte ja nicht, um etwas für sich selbst zu erreichen, sondern zu ihrem eigenen Besten.« Der Ordensmann lächelte, als er fortfuhr: »Außerdem gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Vögel aufgrund seiner Ermahnungen fortan unter Minderwertigkeitskomplexen litten. Vielleicht sollten wir uns selbst nicht zu wichtig nehmen.«
    »Schon richtig, Pater«, wandte Farr ein. »Nur hat Ihr Heiliger die Vögel bestimmt nicht für Aufgaben vorgesehen, die ihm selbst widerstrebten … Nichts für ungut«, setzte er hinzu, als er den betroffenen Gesichtsausdruck des Paters bemerkte. »Gehen wir!«
    Raymond Farr ahnte, dass jeder Versuch einer Erklärung in

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