Götterdämmerung (German Edition)
Ebenso Arme und Hände. Es war, als hätte sein Körper die Blutzirkulation eingestellt. Simon schaffte es kaum, den Kopf zu drehen. Sogar der Hustenreiz hatte aufgehört. Es war wie in einem Traum, in dem man sich verzweifelt bemüht, wegzulaufen, aber keinen Meter vorankommt. Nur war das hier kein Traum. Oder doch?
Simon biss sich auf die Zunge. Er musste aufwachen. Egal, ob aus einem Traum oder seiner Schockstarre. Schon näherten sich weitere Schritte.
Die Beine näherten sich langsam und schwerfällig und blieben fast an derselben Stelle stehen wie kurz zuvor der Roboter. Sie gehörten einem Menschen. Die Person beugte sich zu ihm hinunter und leuchtete mit einer kleinen Lampe in Simons Versteck. Simon kniff die Augen zusammen und hielt sich die Hand vor die Augen.
„Du musst mir helfen“, murmelte der Mann und kroch neben Simon unter den Vorsprung.
•
„Hanna?“, rief Oliver unsicher. Das Mädchen antwortete nicht. Es sah auf ihn herab und war dabei so still, dass es unheimlich wirkte. Oliver wusste nicht, warum Hanna da war und ob er froh darüber sein sollte. Wahrscheinlich eher nicht. Schließlich hatte sie ihn erst in diese Lage gebracht. Sie hatte ihn bewusstlos geschlagen und wohl auch gefesselt. Also was wollte sie jetzt noch hier? Zusehen, wie er mit seinen Fesseln kämpfte? Oder hatte sie ein schlechtes Gewissen bekommen?
„Bitte hilf mir!“, forderte er sie auf. „Da liegt irgendwo ein Messer. Ich habe es verloren.“
„Ja, das sehe ich“, sagte sie ungerührt.
„Dann hilf mir suchen!“, versuchte er es erneut, während sein Blick fieberhaft über den dunklen Grasboden glitt. „Bitte.“ Wenn er das Messer wenigstens sehen könnte. Er hatte mehr denn je das Gefühl, es zu brauchen.
„Eigentlich hast du es nicht verdient, dass ich dir helfe“, sagte das Mädchen kalt. „Ich sollte dich den Robotern überlassen.“
Oliver sah auf. „Wovon redest du? Welche Roboter?“
Hanna drehte sich um. „Sie werden bald hier sein“, meinte sie. „Sie durchsuchen die ganze Stadt. Im Grunde ist es egal, ob ich dich befreie. Früher oder später finden sie dich.“ Das klang nicht im Geringsten bedauernd, auch nicht nüchtern, eher schwang eine Spur Genugtuung darin.
„Was habe ich dir getan?“
„Spirit“, erwiderte Hanna knapp. Oliver sah sie verständnislos an. „Spirit? Was hast du mit Spirit zu tun?“ In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. „Wie heißt du wirklich?“
„Mein Name tut nichts zur Sache. Du kennst mich nicht.“
„Warum dann das Ganze?“, fragte er ungeduldig. Er wollte nicht länger diskutieren. Er wollte, dass sie ihm half, aber so wie es aussah, dachte sie nicht daran.
„Ihr habt so viele von uns auf dem Gewissen“, flüsterte sie. „Darum. Ich musste doch irgendwo anfangen.“
Oliver schluckte. Langsam dämmerte es ihm. Wen hatte er – hatte Spirit – auf dem Gewissen? Viele von uns? Dass sie mit ihren jungen Jahren Wissenschaftlerin sein könnte, schloss er aus.
„Du bist eine von … von denen …“, brachte er hervor. „Du bist gar kein Mensch.“
Das Mädchen trat einen Schritt auf ihn zu, bückte sich und hob mit einer schnellen Bewegung das Messer auf. „Doch. Ich bin ein Mensch. Ich habe nur keinen menschlichen Körper.“
„Nenne mir nur einen vernünftigen Grund, weshalb ich dich losmachen sollte“, brachte sie hervor. „Hast du eine kranke Mutter zu versorgen? Kinder? Bist du Arzt?“
Er schüttelte stumm den Kopf.
„Dann kann ich dir auch nicht helfen“, sagte Hanna. Sie steckte das Messer ein und lief mit gesenktem Kopf zurück in Richtung der Bäume.
„Hanna“, schrie er. „Bleib hier. Gib mir wenigstens das Messer!“
„Zu spät“, rief sie zurück. „Sie kommen schon. Ich muss weg.“ Damit verschwand sie in der Dunkelheit. Oliver starrte ihr fassungslos nach. Dann brüllte er wütend das Gras an. Aber noch während er brüllte, hörte er, dass sich etwas von der anderen Seite näherte. Den Geräuschen nach zu urteilen musste es groß sein. Sehr groß. Das Brüllen erstarb auf seinen Lippen.
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Hanna mied den Weg und schlug sich durch das Dickicht. Dank ihrer speziellen optischen Sensoren konnte sie bei Dunkelheit ebenso gut sehen wie am Tag und sie wollte niemandem über den Weg laufen. Weder diesen Robotern, die sie auf ihrem Heimweg bei ihren Gräueltaten beobachtet hatte, noch den Menschen, denen sie nicht helfen konnte. Nicht helfen durfte . Nicht wenn sie selbst überleben
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