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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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heraufziehenden Gewitter. »Hi, Schatz«, sagte sie schließlich.
    »Wie geht es dir?«, fragte ich.
    »Sie sagen, dass es ein Schlaganfall gewesen sein könnte. Ich glaube das nicht. Mein Verstand ist klar wie Kristall.«
    Den Blick nach draußen, auf die Wetterfront, gerichtet, hob sie die rechte Hand und bewegte die Finger. Das Gleiche machte sie mit der linken Hand. Indem ich mich auf das breite Fensterbrett setzte, zwang ich sie, mich anzusehen.
    »Kannst du gehen?«, fragte ich.
    »Natürlich kann ich gehen. Ich kann auch sprechen. Ich bin es, die hier spricht. Kannst du mich hören? Und was stimmt sonst so nicht mit mir? Was glaubst du? Soll ich dir etwas vorsingen?« Sie trällerte ein paar Takte aus Sentimental Journey. »Siehst du!«, sagte sie. »Bist du jetzt überzeugt?«
    »Pilar Mellado möchte, dass du in das El-Descanso-Pflegeheim übersiedelst. Ich halte das für eine ganz gute Idee.«
    »Ich liebe Blitze«, sagte sie und versuchte, an mir vorbeizulinsen. »Als Kind hatte ich Angst davor, weil ich sie für etwas Willkürliches hielt, was Leben tötet, Leben, die es nicht verdient haben, getötet zu werden. Bumm! Himmlische Einäscherung! Mit einem Blitz himmelwärts! Aber das ist eine kindliche Sichtweise. Inzwischen weiß ich, dass nichts willkürlich ist, vor allem Blitze nicht. Ein Blitz ist präzise wie eine Handarbeit.«
    Ich sah jetzt, dass ihr rechtes Augenlid zur Hälfte geschlossen war. Sie bemerkte, dass ich darauf starrte.
    »Ich bin auch nicht blind«, sagte sie. »Nicht auf beiden Augen gleichzeitig. Das kann ich beschwören.«
    »Und warum bist du hier?«, fragte ich.
    »›Welche Silbe suchst du, Vokalissimus, in den Fernen des Schlafes? Sprich sie aus.‹«
    »Wie bitte?«, entfuhr es mir.
    »Poesie. Die guten alten Sachen, als Dichter noch Herz und Verstand besaßen. Stevens, glaube ich. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Muss ich ins Pflegeheim, weil ich mich nicht mehr an alles erinnern kann? Erinnerst du dich an deinen Vater, wie sie ihn getragen hat?«
    »Wie wer ihn getragen hat?«
    »Es ist ein Geheimnis in einem Geheimnis in einem Geheimnis.«
    »Was ist?«
    »Bitte, strapaziere nicht meine Geduld, Schatz.«
    »Ich spreche mit Pilar. Wir werden gemeinsam an einer Lösung arbeiten.«
    »Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Das habe ich zur Genüge getan. Mein ganzes Leben lang. Jetzt gilt es zu singen, gilt es zu fliegen. Wie dem auch sei, ›der Kiefernwald gibt meinem Körper Süße. Die weiße Iris schmückt mich.‹«
    Sie stand auf, verlor das Gleichgewicht und setzte sich wieder. Das hängende Augenlid flatterte. Mit einem Mal sah sie aus wie ein verängstigtes Kind. Unter der dünnen Haut ihrer mit Altersflecken gesprenkelten Hand zeichneten sich die Knochen ab. Velma verging Stück für Stück. Es war unerträglich für mich, es mitansehen zu müssen. Dann schon lieber von einem willkürlichen, von mir aus auch von einem »präzise-wie-eine-Hand-arbeit-Blitz« abberufen werden.
    Eine Praktikantin in der klassischen rot-weiß gestreiften Uniform kam herein, ein Tablett in den Händen.
    »Schweizer Steak mit Brokkoli und Apfelmus!«, verkündete sie dank ihres jugendlichen Optimismus begeistert. »Und was haben wir hier? Boston Cream Pie zum Nachtisch! Lecker!« Velma wandte sich von dem Tablett ab, als hätte man sie beleidigt. Die Praktikantin hatte Mühe, ihr Lächeln zu konservieren. Ich versprach Velma, am nächsten Tag wiederzukommen, gab ihr einen Kuss auf die pergamentene Wange und ging.
    Ich saß bei aufgedrehter Klimaanlage in meinem Wagen und telefonierte mit Pilar Mellado. »Sie benimmt sich ein wenig kindisch.«
    »Was Sie nicht sagen«, erwiderte Pilar. Sie klang gelangweilt. Sie klang immer gelangweilt.
    »Kindisch, Pilar, nicht verrückt. Kein Grund, sie nicht wieder nach Hause zu lassen.«
    »Sie hat es Ihnen nicht erzählt?«
    »Mir was erzählt?«
    »Letzte Nacht, kurz vor dem Schlaganfall, ist die Jungfrau Maria von Guadalupe in ihr Schlafzimmer gekommen. Die Jungfrau hat die Leiche Ihres Vaters getragen.«
    »Sie hat die Jungfrau nicht erwähnt. Sieht so aus, als wäre sie ein kleines Schlitzohr. Beweist das nicht, dass ihre Funktionen noch da sind … mehr oder weniger?«
    »Weniger, würde ich sagen. Viel weniger. Und jetzt machen Sie Folgendes, J.P., Sie fangen an, einiges in die Wege zu leiten. Zuerst kümmern Sie sich um ein Zimmer im El Descanso, dann kontaktieren Sie einen Immobilienmakler, damit Velmas Haus zum Kauf angeboten werden kann.

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