Goetterdaemmerung - Roman
Herzog eisern festhält, sind längst zur leeren Hülle geworden.
Bei der Uraufführung der Götterdämmerung im Festspielhaus zu Bayreuth 1876 wirkt er in seiner Gala-Uniform wie ein Fossil: In der Fürstenloge, zu der der entthronte Herzog natürlich keinen Zutritt hat, sitzt der Kaiser des geeinten Deutschen Reiches, der seine Macht nicht durch Äußerlichkeiten demonstrieren muss, umgeben von Hoheiten, die mehr oder weniger zur Bedeutungslosigkeit abgesunken sind, darunter auch der neue Herzog von Blankenburg. Die Führungsschicht des Ancien Régime, der Adel, scheint im Publikum kaum vertreten zu sein, tonangebend ist die Aristokratie des Geldes: Der Herzog bemerkt mit offensichtlichem Widerwillen Fabrikanten, Geschäftsleute, mehrere unkultiviert-arrogante amerikanische Milliardäre; außerdem Juristen, die Karriere gemacht haben, Kurtisanen, Literaten und Journalisten, denn anders als die alte Aristokratie legt die neue keinen Wert auf Exklusivität. Aggressiv antisemitische Bemerkungen zeigen, dass Bourges den präfaschistischen Tendenzen, die damals in Frankreich an Bedeutung gewannen, nicht fernstand. Der Leser sieht die moderne Gesellschaft mit den Augen Herzog Karls, es steht allerdings zu befürchten, dass der Autor – auch der bereits erwähnte Roman Les Oiseaux s’envolent et les fleurs tombent spricht dafür – der Figur in diesem Fall seine eigenen Ansichten untergeschoben hat. Seiner Verlobten Anna Braunerowa schrieb Bourges über dieses letzte Kapitel: «Ich möchte eine schöne, große, leidenschaftliche und philosophische Passage über den Zustand der modernen Welt schreiben. Ich werde hasserfüllt auf alle diese Leute einschlagen und versuchen, für die Juden ein paar treffende Beiwörter zu finden, die unter die Haut gehen.»
Der verhassten modernen Welt stellt Bourges nun freilich keineswegs eine verklärte Vergangenheit gegenüber: Herzog Karl als Symbolfigur des Ancien Régime ist egozentrisch, verantwortungslos, starrsinnig, maßlos eitel, allenfalls mäßig intelligent und verfügt über keine besonderen Begabungen – das macht ihn wenig sympathisch und auch lächerlich. Da er eine Zeit repräsentieren soll, in der nicht alles, aber doch manches besser war als in der Gegenwart des Jahres 1884 , muss er trotz allem so dargestellt werden, dass er den Leser zu interessieren vermag. Daraus erklärt sich Bourges’ Absicht, seine Figuren «sehr wahr und knapp überlebensgroß» darzustellen, wie er an seine Verlobte schrieb, und damit auch der durchgängige Bezug auf die mythische Welt von Wagners Ring des Nibelungen .
Der Komponist selbst tritt im ersten und im letzten Kapitel unter seinem wirklichen Namen auf, bleibt aber schemenhaft: Im ersten Kapitel sehen wir ihn die Festaufführung der Tannhäuser -Ouvertüre und des ersten Akts der Walküre dirigieren; unmittelbar vor der Flucht der Hofgesellschaft kommt es zu seiner einzigen, kurzen Begegnung mit Herzog Karl, Wagner – es ist das erste und letzte Mal, dass er im Roman zu Wort kommt – nennt den (vom Herzog als Prophezeiung aufgefassten) Titel des letzten Teils seiner Tetralogie. Im Bayreuth-Kapitel ist der Herzog Teil des Publikums, das Wagners kurze Ansprache nach der Premiere der Götterdämmerung hört: «Sie haben jetzt gesehen, was wir können; wollen Sie jetzt! – Und wenn Sie wollen, werden wir eine Kunst haben.» Auf Herzog Karl scheint sie keinen Eindruck gemacht zu haben, jedenfalls bleibt ihr Inhalt unkommentiert.
Schon dass Karl von Este für die Festaufführung zu seinem Geburtstag ausgerechnet Wagner engagiert hat, scheint verwunderlich: Die Vergangenheit des Barrikadenkämpfers von 1849 und politischen Flüchtlings konnte diesen Erzreaktionär kaum für ihn einnehmen. Da die Tannhäuser -Ouvertüre auf seinen ausdrücklichen Wunsch gespielt wurde, kennt und schätzt er wohl die Musik aus Wagners frühen, noch verhältnismäßig konventionellen Opern. Vor allem aber hatte ihm der bayerische König den Komponisten «ausgeliehen», und wie gezeigt stimmen der Herzog und Ludwig II . in ihrem Verständnis der Monarchie – wenn auch wohl nicht in ihrem Kunstgeschmack – weitgehend überein. Die Beziehung zu Wagners König war Bourges so wichtig, dass er deswegen sogar (wissentlich?) eine historische Ungenauigkeit in Kauf nahm: Ende Juni 1866 hätte Wagner die Sängerin Giulia Belcredi nicht «aus München» mitbringen können, denn im Dezember 1865 hatte er Bayern wegen Einmischung in die Politik verlassen müssen
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