Goetterdaemmerung - Roman
und lebte seitdem in Tribschen am Vierwaldstätter See.
Für den Herzog bedeutet die «Götterdämmerung», wie er sie bei Wagner dargestellt findet, den endgültigen Niedergang des Ancien Régime und den Aufstieg des Bürgertums, das, wie er voll Abscheu bemerkt, im Bayreuther Festspielhaus den Ton angibt. Große Teile des konservativen deutschen Publikums, dessen getreues Spiegelbild Heinrich Manns «Untertan» Diederich Heßling ist, mögen es ähnlich aufgefasst haben – das könnte den durchaus überraschenden Erfolg, den Wagners Werke nach der Reichsgründung erzielten, zumindest teilweise erklären. So hatte es der Komponist, der, wie Udo Bermbach gezeigt hat, zeitlebens mit linken, anarchistischen und sozialistischen Ideen sympathisierte, freilich nicht gemeint: Vielmehr verweist der Ring als Symbol egoistischen Macht- und Besitzstrebens auf den Kapitalismus – «Walhall ist Wall Street», wie Wieland Wagner später formulierte. Wenn Brünnhilde in der von Bourges anscheinend nicht zur Kenntnis genommenen Schlussszene der Götterdämmerung den Ring dem Rhein zurückgibt, ist der Weg frei für eine neue, nicht materialistische, sich auf Liebe und mitmenschliche Solidarität gründende Gesellschaft. Freilich ist die positive Utopie nur aus der szenisch kaum umsetzbaren letzten Regieanweisung Wagners zu erschließen, während der Weltenbrand und der Tod der Götter in Text, Musik und Bild unmittelbar sinnfällig werden. Vielleicht hat Herzog Karl Brünnhildes Schlussgesang gar nicht gehört, denn er ist ein alter, kranker Mann, der ständig einnickt. Beim Trauermarsch für Siegfried aber war er wach, und das in seiner schrecklichen Schönheit überwältigende Stück wird ihm zum Menetekel des Untergangs seiner Welt.
Bourges stellt mit seinen Figuren nicht Wagners Götterdämmerung , oder gar den ganzen Ring des Nibelungen , nach – eher dekonstruiert er Wagners Ring , ähnlich wie Wagner selbst den germanischen Mythos dekonstruiert hat: Der Romancier nimmt Figuren, Situationen und Requisiten, deutet sie um, kombiniert sie mit Material anderer Herkunft und setzt alles zu einem neuen Ganzen zusammen, das nach Charakter und Aussage von Richard Wagners Erzählung, die als Folie durchgehend erkennbar bleibt, denkbar verschieden ist.
Anders als das Rheingold weckt Herzog Karls Schatz zwar Begehrlichkeiten, ist aber nicht mit einem Fluch belegt. Es scheint auch fraglich, ob man der Liebe entsagen muss, um ihn zu erringen, und ob die Liebe einen vor der Goldgier zu bewahren vermag. Der Herzog hat mehr Liebschaften als Wotan, man kann sich allerdings fragen, ob er auch nur eine von den Müttern seiner Kinder wirklich geliebt hat – manches deutet darauf hin, dass er nur sich selbst liebt. Wenn die Hofleute angesichts der Preziosen in der Schatzkammer ihre Habgier kaum verbergen können, bleiben nur Hans Ulrich, Christiane und Otto ungerührt – Hans Ulrich und Christiane schützt die ihnen noch unbewusste inzestuöse Liebe zueinander, Otto das Verlangen nach Giulia Belcredi; aber die Belcredi wird dem Herzog unmittelbar vor ihrem Suizid an den Kopf werfen, sie habe immer nur Otto geliebt, und diese Liebe bewahrt sie nicht vor ihrer verhängnisvollen Habsucht.
Der Herzog trägt manche Züge Wotans, obwohl er natürlich nur eine Karikatur des Göttervaters sein kann: Wie – vermutlich – die neun Walküren stammen seine fünf Kinder allesamt von verschiedenen Müttern. Mit dem Palais Beaujon baut er sich sein Walhall – in Neuschwanstein-Gestalt –, eine Trutzburg, in der seine Reichtümer sicher sein sollen. Arcangeli, Hofnarr und Ratgeber in einer Person, scheint sein Loge; Hans Ulrich und Christiane sind natürlich Siegmund und Sieglinde. Otto, ein ungebärdiges Kind und Karls Liebling, hat etwas vom jungen Siegfried; Ottos Erzieher, der kleinwüchsige Herr von Cramm, den die Streiche seines Zöglings mehrfach fast das Leben kosten, gleicht Mime.
Dass es im dritten Siegfried- Akt zur Konfrontation zwischen Siegfried und Wotan, dem «Wanderer», kommt, in der der Gott unterliegt, ist – Wagner selbst hat es gesagt beziehungsweise geschrieben – auf Wotans «Eifersucht um Brünnhilde» zurückzuführen. Otto begehrt Giulia Belcredi, die Mätresse seines Vaters – aber die Situation im Roman ist doch völlig anders: Brünnhilde ist Wotans Lieblingstochter, hinter dieser Zuneigung mögen sich zweideutige Gefühle verbergen, aber nichts davon kommt jemals an die Oberfläche. Herzog Karl wiederum ist nicht
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