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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Böttcher
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musste. In L.A. wäre sein Leben nach diesem Zwischenfall nicht mehr sicherer als eine Debütantin bei einer Produzentenfeier. Und eigentlich hatte er nichts dagegen, einen Abstecher nach Europa zu riskieren. Warum nicht? Es gab zwar sicherlich günstigere Momente für einen solchen Ausflug, aber das, was in Europa an Hass umging, richtete sich wenigstens nicht gegen ihn persönlich.
    Cameron ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke und blieb stehen. An der Wand vor seiner Nase hing Docs Diplom. Er war tatsächlich Arzt gewesen. Ein richtiger Mediziner. Doktor Julius Tinker. Das hatte Cameron nicht gewusst. Er hatte nicht einmal gewusst, wie Doc wirklich hieß. Es war nicht das erste Mal, dass Cameron das Gefühl hatte, über viel zu viele Dinge viel zu wenig zu wissen.
    Aber es war auch nicht das letzte Mal.

8
    Erasmus hatte einen ungewöhnlichen Vormittag verbracht. Nicht, weil die Dorfstraße, an deren Rand er seinen kleinen Wagen abgestellt hatte, vollkommen zugeparkt gewesen war; nicht, weil ihn eilige Autofahrer wegen seiner korrekten Fahrweise von hinten wüst behupt hatten, und nicht, weil unschuldige Kinder hinter seinem blauen Rücken fröhlich in kleine Hände gegluckst hatten.
    Andere Menschen, die sich sonst nach seinem zerzausten Kopf umdrehten und den riesigen schwarzen Hund an seiner Seite anstarrten, waren an ihm vorbeigeschlichen, als sei der Himmel im Begriff, ihnen wuchtig auf den Kopf zu fallen. Geschäftsmänner und -frauen, dörfliches Volk, in hängende Hosen verpackte Junge und schlottrige Alte waren aneinandergeklammert an Erasmus und Baal vorbeigeirrt und hatten, ihren schattigen Mienen nach zu urteilen, plötzlich begriffen, dass derjenige, an den sie sich gerade klammerten, ohne Vorwarnung verschwinden konnte. Das war natürlich auch vorher der Fall gewesen, aber nie so vielen Menschen zur gleichen Zeit so überaus drastisch vorgeführt worden.
    Fast unbemerkt hatte Erasmus die kleine Bäckerei betreten, die am Rande der Dorfstraße duftete, und die weiß bekittelte Frau des Bäckers herzlich begrüßt. Jene runde Dame, die üblicherweise von aller Welt die schönsten Geschichten zu erzählen wusste.
    Diesmal hatte sie geschwiegen.
    Dafür hatte ein anderer gesprochen, und zwar einer, der üblicherweise schwieg wie bestochen, in grau-grün-braune Kleidungsstücke gehüllt in der Ecke des Verkaufsraumes saß und seinen kleinen Rauhaardackel Pit streichelte, einen Hund, der im Ruhezustand frappierende Ähnlichkeit mit einer ausrangierten Fußmatte aufwies. Als Erasmus den Kopf gewandt hatte, um Max, den schweigsamen Hundebesitzer zu begrüßen, hatte Max gegrunzt. Max hatte vorher noch nie gegrunzt, und wenn Erasmus nicht längst gewusst hätte, dass die Welt aus den Fugen war, wäre es ihm spätestens in diesem Augenblick klar geworden. Baal hatte sich schwanzwedelnd neben Pit gestellt, Pit hatte zurückgewedelt. Die Tiere fürchteten sich nicht. Max hingegen war offenbar völlig von der Rolle. Dem Grunzen hatte er eine Frage folgen lassen und diese Frage gleich anschließend selbst beantwortet.
    «Sagen Sie doch selbst», sagte er, wobei er eine Heißwecke aus dem weiten Ärmel zauberte und das Teigstück mutlos auf sein grau-grünes Knie sinken ließ. «Ham wir’s denn etwa nich verdient? So, wie’s jetzt ist? Sagen Sie doch selbst, Herr Weinberger. Wie’s auf’m Mond und auf’m Mars aussieht, das wissen wir, und dass irgendso’n Quark rauskommt, wenn man Mulleküle unterirdisch durch’n Wohngebiet schießt, und dass man nich vom Himmel für gewisse Sachen gestraft wird, sondern von irgendwelchen Viren oder Bakterien oder so was, das wissen wir auch. Und was wir noch wissen, iss, dass man ’ne ganze Menge Geld braucht, um sich all die Wünsche zu erfüllen, die man eintlich gar nicht hat, zum Beispiel nach Mallorka zu fahrn oder sich ’n schnittiges Auto zu kaufen, mit dem man dann im Stau stehen kann. Dafür ham wir Zeit, für so was. Und Häuser wollen wir und große Wohnungen für uns allein und schlaue Telefone zum In-die-Hose-Stecken und Öfen, die ohne Hitze Essen kochen, jaja, aber bloß nicht einem helfen, der platt auffer Nase liegt, weil dafür bezahlt einen nämlich keiner. Die müssen alle weg, die nich richtig krabbeln können so wie wir. Zum Psüchater oder ins Heim, wenn se alt genug sind. Und die Kinder kriegen Spiele und Filme und Turnschuhe für hundert Euro, weil Mama nicht da ist, weil die nämlich dafür arbeiten muss, dass die Kinder Schuhe für

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