Götterdämmerung

altes Fallobst. Schlimm genug, dass überhaupt Menschen sterben mussten, schlimmer, dass er persönlich für den Tod von Unschuldigen verantwortlich war, aber dass er seinen Herrn und Meister belogen hatte, war schlicht und ergreifend unerträglich.
    Hugin scharrte verlegen mit der rechten Kralle auf der Tischplatte.
    «Äh, Herr?», flüsterte er.
    Odin rührte sich nicht. Er blieb, von Hugin abgewandt, am Fenster stehen und starrte weiter gedankenverloren in den dichten Nebel.
    «Meister?», krächzte Hugin etwas lauter.
    Langsam drehte sich der Göttervater um und sah den Raben aus stahlblauem, ungeduldigem Auge an.
    «Ja, Hugin?»
    «Äääh, ich … ich weiß gar nicht, wie ich’s sagen soll, Herr, jedenfalls ist es nicht meine Schuld, wirklich nicht, so wahr ich hier hocke, aber, na ja, also, die Namen, die ich euch eben verraten habe, die Namen dieser Sterblichen …»
    «Ja?»
    «Also, ich hätte das nie getan, wenn eure Söhne meinen Bruder nicht entführt hätten, ich meine, schließlich wart Ihr immer gut zu mir, und ich bin wirklich ein ziemlich loyaler Rabe, wenn Ihr wisst …»
    «Komm zur Sache», grollte Odin und näherte sich mit langen, schweren Schritten. Hugin versank im Schatten seines Meisters und wurde sehr klein.
    «Dienamenwarnfalsch», murmelte er hastig.
    «Wie bitte?»
    «Die Namen waren falsch.»
    Eine große, haarige Pranke schloss sich um den Hals des Raben. Hugin wurde hochgehoben und fand sich unmittelbar vor Odins zornig funkelndem Auge wieder. Er versuchte zu schlucken.
    «Herr», krächzte er deutlich rauer als gewöhnlich, «es … tut mir leid, Baldur und Hödur haben Munin entführt und wollen ihm sämtliche Federn einzeln ausreißen, haben sie gesagt, und was sollte ich denn da machen, ich kann doch nicht zulassen, dass mein einziger Bruder gerupft wird …»
    «Dein Bruder?», zischte Odin verächtlich. «Dein Bruder ist bei Frigg und berichtet ihr von der Menschenmode des siebzehnten Jahrhunderts, du Missgeburt von einem Raben!»
    Hugin starrte ungläubig in das blaue, zornige Auge.
    «Echt?»
    «Ich sollte dich rösten, Nebelkrähe … Ich sollte dir den Schnabel auf den Rücken drehen und dein winziges Gehirn den Ratten servieren, damit es wenigstens einmal zu irgendwas nütze ist …»
    «Da ist schon was dran, Herr, aber ich konnte doch nicht ahnen … arrgh.»
    Odin drückte noch etwas fester zu. «Die Namen.»
    «Braaak … Braaak …»
    Widerwillig lockerte der zornigste aller Asen seinen Griff und ließ den Raben auf den Tisch zurückfallen. Hugin fuhr sich mit dem Flügel über die Kehle und hustete.
    «Die Namen, Rabe!», wiederholte Odin drohend.
    «Erasmus Weinberger und Diana, 2012 , Cameron Cameron, 1939 , Gwydiot, Merlin von Glanwrhydd, 504 , alles nach Christi Wandeln, Herr, und bitte vergebt mir …»
    «Wir unterhalten uns später!», donnerte der oberste Ase und trat wutentbrannt ans Fenster. Er konzentrierte sich sekundenlang, dann schoss ein dünner, blaugelber Blitz aus seinem Auge und jagte mit dutzendfacher Lichtgeschwindigkeit aus der göttlichen Wohnanlage, um Thor in den Kopf zu fahren.
     
    Josef Stalin bibberte wie Waldmeister-Götterspeise in einem Erdbebengebiet und schaffte es sogar, die gleiche Farbe anzunehmen. Vor ihm, auf dem teuren Teppich seiner Kommandozentrale, stand ein Riese in schwerer Rüstung, der dümmer aussah als der dümmste ukrainische Bauer, aber offenbar wesentlich kräftiger war. Mjölnirs wuchtiger Kopf hing drohend über dem des russischen Tyrannen.
    «Du … kannst die Mongolei haben», winselte Stalin. «Den Kaukasus … meinetwegen sogar Moskau … Moskau? Ja? Ehrlich, was du willst, aber nimm dieses Ding weg …»
    Thor holte lächelnd aus. Muskeln rollten unter der dünnen Haut monströser Kriegerarme, als Mjölnir sich hinter den Rücken seines Meisters senkte und den tiefsten Punkt seiner tödlichen Parabel erreichte. Thor nahm alle Kraft zusammen, um den kleinen, feigen Wicht mit dem widerlichen Schnauzer in möglichst kleine Stücke zu zerschlagen. Mjölnirs Kopf gewann an Fahrt und rauschte hinauf zum Scheitelpunkt seiner Flugbahn, als Odins sachliche Stimme Thors winziges Gehirn traf.
    «Er ist der Falsche», sagte die Stimme.
    Mjölnir zerschmetterte den großen Schreibtisch in zierliche Schnipsel und riss einen Bombenkrater in den Boden. Stalin machte einen Riesensatz nach hinten und klammerte sich ängstlich in einen Vorhang. Thor sah verdutzt nach oben.
    «Was?»
    «Er ist der Falsche,