Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
Vom Netzwerk:
damit etwas anzufangen wüsste, war mehr als fraglich. Silvie hatte jedenfalls bislang noch keinen Schimmer, wer da dicht hinter ihr saß – und das war auch gut so.
    »Ich würde jetzt dann gern nach Hause gehen.«
    »Ist nicht mehr lang.«
    Würde sich dieser Dialog bis Reykjavik jede zweite Minute wiederholen? Verdammt, wo war der Notausstieg? Wencke hatte das Gefühl, in einer Pfütze zu sitzen, so klebrig schmiegte sich der Sessel an ihre Jeans. Die Stewardessen machten ihre erste Runde, servierten Getränke und Tageszeitungen für jeden Geschmack. Götze lehnte beides mit trotziger Geste ab, Wencke wählte einen Beuteltee und aus lauter Verzweiflung die Bild-Zeitung. Auf mehr konnte sie sich in diesem Moment nicht konzentrieren.
    Die Sorge, in was für eine Sache sie hier geradewegs reinschlitterte, setzte ihr zu. Wer oder was erwartete sie, wenn sie erst mal auf Island gelandet war? Alles, was in den letzten achtundvierzigStunden geschehen war, schien zu einer Art Masterplan zu gehören. Seitdem Wencke sich auf ihrem Küchenboden ausgestreckt und diesen Brief unter dem Kühlschrank hervorgefischt hatte, schien es, als sei ihr Handeln fremdbestimmt. Wencke wurde schlecht bei dem Gedanken, also zwang sie sich zum Lesen.
    Die Bild-Zeitung hatte einen mäßig spannenden Aufmacher: Deutschland, wie wird deine Zukunft? Eine Handvoll ausrangierter Prominenter äußerte sich zur Währung, zum Bildungssystem, zur Klimaerwärmung. Kalendermäßig war noch Frühling, aber in der Boulevardpresse machte sich anscheinend bereits das Sommerloch breit. Dann weckte das eher unscheinbare Statement zwischen einem Ex-Sternekoch und einer Ex-Operndiva Wenckes Interesse. Das eindeutig mit einem leistungsfähigen Bildprogramm aufgemotzte Porträt zeigte einen kernigen Senior, braun gebrannt, in hellgelber Strickjacke und mit klarem Blick. Unterschrieben war das Foto mit Karl Hüffart (73), ehemaliger Parteivorsitzender und Mitgestalter der deutschen Einheit: »Ehrlichkeit, Mut und Loyalität sind die Eckpfeiler, auf die unsere Demokratie bauen kann. Wir müssen unsere Kinder dazu anhalten, an diese Tugenden zu glauben.«
    »Ich würde jetzt dann gern nach Hause gehen«, jammerte derselbe Mann keine zwei Armlängen entfernt. Dieser Mensch sollte derart ausgefeilte Worte über die Eckpfeiler der Demokratie von sich gegeben haben?
    »Ist nicht mehr lang«, kam prompt wieder die Antwort. Aus Silvies Stimme war keine Ungeduld herauszuhören, eher die Art von mangelnder Aufmerksamkeit, die manche Mutter ihrem Kind im lästigen Fragealter zukommen lässt.
    »Aber ich will jetzt wirklich sehr gern nach Hause.«
    »Wir sind ja bald da.«
    Anscheinend war selbst dem dementen Hüffart das Gespräch inzwischen zu eintönig, denn er variierte das Thema.»Was machen wir hier eigentlich?«
    »Wir fliegen nach Island.«
    »Wen besuchen wir denn?«
    »Es ist eine Dienstreise, Karl.«
    Wencke bemerkte, wie sich Götzes Körper neben ihr anspannte. Er griff nach der Zeitung. Wahrscheinlich hatte er gerade das Zitat entdeckt.
    »Wen besuchen wir denn?«, wiederholte Hüffart.
    Keine Antwort.
    Stattdessen schien Götze seine Stimme wiedergefunden zu haben. »Der Arsch soll noch eine Silbe sagen, was wir unseren Kindern beizubringen haben«, knurrte er und ballte seine Faust, sodass die untere Hälfte der Zeitung zu einem Ball gepresst wurde. »Er hat seinen Sohn auf dem Gewissen. Seinen eigenen Sohn. Da kann er nicht über Ehrlichkeit, Mut und Loyalität faseln. Hüffart ist der Letzte, der weiß, was das ist.«
    »Karl Hüffart ist dement, Frankie«, flüsterte Wencke und zeigte auf den noch nicht zerquetschten Teil der Zeitung. »Was da steht, stammt ganz sicher nicht aus seiner Feder.«
    »Wen besuchen wir denn?«, fragte die inzwischen weinerliche Stimme. »Ich würde nämlich jetzt eigentlich viel lieber wieder nach Hause gehen!«
    »Ist nicht mehr lang.«
    »Besuchen wir Jan?« Der alte Mann war auf einmal ganz aus dem Häuschen, man hörte ihn lachen.
    »Es ist eine Dienstreise, Karl.«
    »Besuchen wir Jan?«
    Genervtes Seufzen: »Ja, okay, wir besuchen Jan.«
    »Ich möchte mit Jan spielen!«
    »Halts Maul!« Götzes Faust schnellte plötzlich nach vorn und traf die Lehne des Vordersitzes mit voller Wucht.
    »Hör auf, Frankie!«, zischte Wencke. Sie schaute ihren Sitznachbarn an. Nackte Aggression hatte sein Gesicht rot gefärbtund man sah seine Kiefermuskeln arbeiten. Hier, in elftausend Metern Höhe, drohte gleich ein Schwerverbrecher zu

Weitere Kostenlose Bücher