Götterfall
aufzusetzen.
Karl Hüffart hatte kaum Falten im Gesicht und schaute sooffen und angstfrei aus den mattblauen Augen wie ein Kind, das noch nicht weiß, wie gefährlich das Leben sein kann. »Wir können jetzt leider noch nicht nach Hause«, klärte er Wencke auf. »Tut mir leid. Wir müssen nach Island. Dort spielen wir mit Jan!«
Skuld
[… noch vier Tage …]
Alles, was man tut, löst eine Reaktion aus. Die Welt lässt sich berechnen. So einfach ist das.
Wenn man ein Kabel manipuliert und die Sicherung außer Kraft setzt, wird es brennen.
Wenn man vier Menschen, die seit Jahren eine gemeinsame Erinnerung verdrängen, auf engem Raum zusammenbringt, wird es ebenfalls brennen.
Wenn man in der Vergangenheit Schuld auf sich geladen hat, wird man dafür zur Rechenschaft gezogen werden, irgendwann. Spätestens in Hel, dem Totenreich, wird man in Flammen vergehen. Am Ende brennt es immer.
Alles basiert auf den Naturgesetzen, das Leben unterliegt einer unabänderlichen Kausalität, das habe ich längst begriffen.
Nur dass auf Island die Erde zu beben beginnt, gerade jetzt, während die Nornen die Insel betreten, damit hätte ich nie rechnen können.
Das Zittern der Seismografen wird sich in den nächsten Tagen steigern, schon jetzt malt es Reißzähne auf das Millimeterpapier. Unter unseren Füßen gerät die Welt aus den Fugen, die Kontinentalplatten werden nie zur Ruhe kommen. Europa und Amerika liegen an dieser Stelle nur einen Schritt voneinander entfernt. Es sammeln sich Schlamm und Hitze, ungeduldig, bis die Urgewalt jene dünne Eierschale, die wir für unsere sichere Erde halten, zersprengt. Was unten ist, wird zu uns kommen.Magma – zusammengesetzt aus Olivin, Orthopyroxen, Spinell, Granat – über tausend Grad heiß. Das rotglühende, zähe Gestein ist nur eine weitere Katastrophe, die wir zu fürchten haben. Es ist zu schön, um wahr zu sein.
Ich hätte das nicht berechnen können.
Bald werden sie alle dastehen und jammern, dass sie gefangen sind auf diesem Stück brüchiger Erde. Ich freue mich, wenn es so kommen wird. Wenn die Nornen nicht davonrennen können, müssen sie sich stellen. Sie werden gezwungen, diesem Land zu begegnen, dem Wind und dem Eis und dem Wasser und dem Feuer. Und mir.
Die Nornen werden die Schicksalsfäden wieder in die Hand nehmen und die Geschichte weiterspinnen, die vor Jahren ihren Anfang genommen hat.
Natürlich wird der Baum nicht mehr zu finden sein, an dessen Wurzeln sie gesessen haben. Stattliche Bäume wird es auf Island wohl nie wieder geben. Sie sind gerodet worden, ihr Holz wurde für Schiffe gebraucht, hat die Heimat verlassen, ist auf den Wellen der Welt gesegelt oder an ihren Ufern zerschellt und als verwaschenes Strandgut irgendwo zurück an Land gespült und als Brennholz verfeuert worden.
Zurückgelassen ist nur die blanke Erde, durch Stürme aufgewirbelt und in alle Himmelsrichtungen verwehend, weil es keine Wurzeln mehr gibt, die Halt bieten könnten. Der Wind wird runde Höhlen hineinreißen, die Hitze der Erde die Kruste zersprengen, das heiße Wasser Stein benetzen.
Die Nornen werden dieses Land lieben, sie werden sich faszinieren lassen und das Gefühl haben, endlich angekommen zu sein.
Ich werde sie begrüßen. Ganz harmlos. Ganz still.
Verðandi
[14. Juni, 8.30 Uhr, Frühstücksraum,
Vatnsnesvegi, Keflavik, Island]
Ein Tag ging zu Ende und der nächste begann, ohne dass es dazwischen auch nur für einen Moment Nacht geworden wäre. Es lag also nicht nur am ungewohnten Hotelbett oder der Zeitumstellung, dass Wencke nun schon seit fast vierzig Stunden die Augen offen hielt. Sie spürte, wie die unerbittliche Helligkeit ihren Rhythmus aus dem Takt brachte.
Jetzt saß sie im Frühstücksraum des Hotels, in das man sie für die erste Nacht einquartiert hatte, da es ganz in der Nähe des Flughafens lag. Sie hatte erwartet, dass das Angebot am Buffet dem üblichen Standard entsprach, Wurst, Käse, Joghurt, Cornflakes, Rührei mit Speck und so weiter. Stattdessen standen dort vier verschiedene Sorten Heringshappen, fertig belegte Sandwiches und eine beachtliche Auswahl an süßen Cremeschnitten auf der Anrichte.
Nichts davon wollte Wencke auch nur anrühren. Sie schaffte es mit Mühe und Not, an ihrem Tee zu nippen. Ihre Kehle schmerzte noch immer und das Schlucken fiel schwer, das Andenken an Frankie würde ihr die nächsten Tage zu schaffen machen.
Durch die rund gebogenen Fenster des Wintergartens konnte sie über sich ein Flugzeug in den
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