Götterfall
Aussichtsplattform ringsherum flanieren können. Doch so blieb Wencke lieber hinter den gewölbten Scheiben und erahnte durch die Regentropfen hindurch die Umrisse der bergigen Küste.
Vorhin, als die Symposiumsgäste mit dem Bus durch eine beeindruckende Marslandschaft gefahren waren, die aufgesprungen war wie die Kruste eines frisch gebackenen Marmorkuchens, da hatte Wencke sich gefragt, wie es sein mochte, hier zu leben. Der Gedanke war faszinierend, zugleich konnte sie es sich kaum vorstellen. Die Wolken hingen schwanger am Himmel, der betongraue Nordatlantik erschien ab und zu zwischen den unwirtlichen Hügeln, auf denen trotz allem irgendwelche Menschen Häuser gebaut hatten, bunte Häuser, manche ganz entzückend, aber warum ausgerechnet hier? Das Meer zu kalt zum Baden, die Erde zu wund zum Beackern.
Inzwischen kannte Wencke die Antwort. Eben hatten sie das letzte Museum des Tages hinter sich gebracht, eine in einem leeren Wassertank untergebrachte Ausstellung, in der lebensechte Wachsfiguren die Geschichte der Insel erzählten. Über Kopfhörer hatte Wencke erfahren, dass irgendein Seefahrer auf Island angelandet war und einen Balken über Bord geworfen hatte. Wo das Holz angespült würde, wollte er sesshaft werden. Da hattenalso Strömungen, Wetter, Seegang und das Schicksal dafür gesorgt, dass diese karge Bucht besiedelt wurde. Zwei Drittel der isländischen Bevölkerung lebten inzwischen in Reykjavik und Umgebung. Urbaner würde es folglich nicht werden auf der Rundreise.
Wenckes Füße taten weh. Hafen, Rathaus, Museum, Einkaufsstraße, wieder Museum – Lena Jacobi mutete ihren Schützlingen viel zu. Natürlich war das alles irgendwie auch interessant, doch Wencke wusste noch aus Schülertagen, dass ihr Gehirn bei Stadtführungen eine relativ eingeschränkte Aufnahmekapazität hatte. Dazu kamen die durchwachte Nacht und der Schrecken, den ihr der neue Brief von Doro in die Glieder getrieben hatte. Sie ließ sich auf einen der Metallstühle sinken und bestellte eine große Tasse Kaffee, die laut Umrechnungstabelle stolze fünf Euro kostete, doch das war ihr so was von egal, sie brauchte in diesem Moment Koffein wie ein Medikament, da war sie auch bereit, Apothekerpreise zu zahlen.
Seinen ganz besonderen Charme offenbarte Reykjavik erst im Detail: ein ausgestopftes Schaf mit zwei Köpfen als Blickfang im Boutique-Schaufenster, danach würde man in Hannover wohl vergeblich suchen. In den kleinen Cafés, die sich in den Hinterhöfen der knallrot oder giftgrün angestrichenen Holzhäuser versteckten, saßen junge Menschen in noch farbenfroheren Klamotten, hörten grelle Musik, lachten und ließen ihre Kinder und Hunde durcheinanderlaufen. Das alles gefiel Wencke und sie hatte sich mehrmals überlegt, die kleine Reisegruppe, die brav hinter Lena Jacobi hertrottete, absichtlich aus den Augen zu verlieren und auf eigene Faust die Stadt zu erkunden. Aber dann ließ sie es doch bleiben und nutzte stattdessen die Gelegenheit, Silvie und ihren Mann aus sicherer Distanz zu beobachten.
Ihre alte Zimmergenossin ging ihr eindeutig aus dem Weg. Wenn Wencke einen Museumsraum betrat, verließ Silvie ihnprompt, nicht hektisch, aber ohne ein Zögern. Im Bus saß Hüffart ganz vorn, was aufgrund seiner körperlichen Verfassung Sinn machte. Dass Wencke sich fast provokant drei Reihen dahinter platzierte, hatte Silvie sichtlich nervös gemacht. Über den Vorfall im Flugzeug verloren sie kein Wort. Lange würde das nicht gutgehen. Irgendwann musste sie Silvie mit dem konfrontieren, was sie inzwischen herausgefunden hatte: dass Doro damals einer ziemlich undurchsichtigen Sache auf der Spur gewesen war und Silvie durch ihre Falschaussage bei der Polizei offensichtlich für den verhängnisvollen Verlauf der Aufklärung gesorgt hatte. So sah es aus, da ließ sich nichts beschönigen. Die ganze Reise nach Island, die Begegnung im Flieger, die Briefe – all das war ein Auftrag an Wencke. Sie musste die Dinge durchschauen. Sie musste auch Silvie durchschauen – und erkennen, dass diese Frau lange nicht so seriös und harmlos war, wie sie sich gab.
Karl Hüffart ließ sich von seiner Frau im Rollstuhl durch die Straßen Reykjaviks schieben. Wo sie stehen blieb, musste auch er warten. Und die Richtung, in die er dabei schauen durfte, gab sie ebenfalls vor. War es Absicht, dass Silvie oftmals die Aussicht genoss, den Blick über die angrenzende Villa-Kunterbunt-Straße beispielsweise, während Karl Hüffart so abgestellt
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