Götterfall
von Überfällen hatte Frankie während seines Knastlebens gelernt.Das war, wenn man es auf den Punkt brachte, sogar die einzig wirklich wichtige Sache, die er dort beigebracht bekommen hatte: Du musst die Sekunde abpassen, in der alles stimmt. In der jeder wegguckt, sich sicher fühlt, die Bedrohung außer Acht lässt. Das ist dein Moment!
Frankie lehnte sich gegen den Geländewagen und rauchte. Durch den Seitenspiegel konnte er sehen, dass die anderen beiden, die nun ebenfalls ausgestiegen waren, ihm zugewandt standen, aber in ein Gespräch vertieft waren. Vielleicht regelten sie ihre Urlaubsplanung oder tauschten sich aus, was ihre Frauen und Kinder am Wochenende so trieben, egal, Hauptsache sie waren mit ihren Gedanken woanders. Er zog wieder an der Zigarette. Bald hatte sie die richtige Länge. Ungefähr zwei Zentimeter wären ideal. War der Glimmstängel zu lang, bog er sich im entscheidenden Augenblick und man riskierte, sich selbst zu schaden. Außerdem trug er noch immer die Handschellen, die machten die Sache nicht einfacher. Ein letzter Zug, ein letzter Blick in den Spiegel – alles beim Alten, die quatschten noch immer –, dann atmete er durch und erkannte den Moment!
Er schob die Wagentür mit dem Bein weiter auf und drückte im gleichen Augenblick dem telefonierenden Fahrer die Kippe an die Halsschlagader, tief brannte sich die Glut in die pulsierende Haut. Der Kerl schrie auf, ließ das Telefon fallen, griff sich an die Brandwunde. Er war völlig überrumpelt und ließ sich aus dem Auto zerren, als sei er lediglich ein etwas überladenes, sperriges Gepäckstück. Draußen fiel er zu Boden, die Arme nach unten. Frankie nutzte den Körper als Stufe, kletterte hinter das Lenkrad, trat das Kupplungspedal durch, drehte den Schlüssel um, suchte den ersten Gang, gab Gas – und sah im Rückspiegel einen Aufpasser hektisch in den Wagen springen. Los! Er musste schneller sein. Staub wirbelte auf, die Räder machten Geräusche, die schon beinahe albern nach Freitagabendkrimi klangen, er raste los. Der Uniformierte hing nur halb im Auto,halb daneben, also fuhr Frankie dicht an den Seitenstreifen, so dicht, dass ein Begrenzungspfahl über das Wagenblech streifte und den lästigen Mitfahrer mit sich riss. Er hörte den Schrei durch die geöffnete Schiebetür, aber nur kurz, dann hatte er sich bereits zu weit von dem am Boden liegenden Mann entfernt.
Rauf auf die Autostraße, zurück Richtung Hauptstadt, lange schon war er nicht mehr so schnell mit einem Auto gefahren. Ausgerechnet jetzt begannen dicke Tropfen auf die Windschutzscheibe zu hämmern, der Regenschauer kam wie aus dem Nichts. Zum Glück hatte er Erfahrung mit diesen Kisten, endlich mal war die Zeit bei der NVA-Raketenbrigade zu etwas nutze. Ihm brach der Schweiß aus, obwohl doch eigentlich alles erledigt war. Vorhin, als es drauf angekommen war, waren all diese körperlichen Alarmsignale schön brav geblieben, aber jetzt setzten sie ihm doppelt zu: Mundtrockenheit, Schüttelfrost, Kopfschmerz, Kreislaufturbulenzen, Ameisenarmeen. Was kümmerte es Frankie?
Er hatte seinen Moment genutzt.
[14. Juni, 16.50 Uhr, Perlan, Reykjavik]
Die Reisegruppe verteilte sich unter der Glaskuppel, die ein gewiefter Architekt als eine schimmernde Servierglocke auf den sechs klobigen Warmwassertanks platziert hatte. Von diesem Hügel aus flossen die Thermalquellen durch viele Tausend Rohre unter den Bürgersteigen der Stadt entlang, sodass sich in Reykjavik selbst im heftigsten Polarwinter niemand kalte Füße holte. Warmwasser gab es im Überfluss, es war der Pulsschlag dieser nördlichsten aller Hauptstädte, die so ganz anders wirkte als Berlin, London, Paris oder Rom.
Zwar hatte Lena Jacobi heute jede Gelegenheit genutzt, alles Wissenswerte über diese Metropole im Miniaturformat zu erzählen –zum Beispiel, dass der Name mit Rauchbucht übersetzt wird, was so schön mystisch klang –, trotzdem blieb Reykjavik seltsam fremd. Wie es den anderen Symposiumsteilnehmern erging, konnte Wencke schlecht ausmachen. Zwar hatten sie inzwischen schon den halben Tag miteinander verbracht, über Gott, die Welt und Island geplaudert – doch sooft es ging, sonderte Wencke sich ab. Ihr stand nicht der Kopf nach Smalltalk mit spanischen Fernsehmachern oder schwedischen Steuerexperten.
Auch jetzt hielt sie sich etwas abseits und die Stadt lag wie versehentlich am falschen Ort erbaut zu ihren Füßen. Würde es nicht gerade in Strömen gießen, hätte sie auf der
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