Götterfall
machte den Mund auf und zu. Es kam kein Ton dabei heraus. Das war ja wohl die Höhe!
»Aber wie gesagt, es gibt ein hervorragendes Menü im Hotel Borg . Verhungern werden Sie also auf keinen Fall.«
Verhungern? Wer sprach hier vom Verhungern?
Silvie war kurz davor, es in den nächsten Sekunden dem Vulkan gleichzutun – und zu explodieren!
[14. Juni, 20.34 Uhr, Hotel Borg, Posthusstraeti, Reykjavik]
Eventuell war Wencke in ihrer obligatorischen Jeans-und-Turnschuh-Kombination tatsächlich etwas underdressed. Zum Glück hatte sie noch schnell ihre graue, lange Baumwollbluse aus dem Koffer gefischt und den malträtierten Hals mit einem eleganten Seidenschal verhüllt. Aber wer hätte denn mit einem solchen Nobelschuppen rechnen können? Sie saßen an runden, weißeingedeckten Tischen, aßen köstlichen Fisch, der wie Lachs aussah und fast genauso, nur eben noch etwas besser schmeckte – und redeten ausschließlich über den Vulkan.
Herðubreið , ein Krater im Nordosten der Insel, unter dem es ständig brodelte, hatte relativ spontan beschlossen, mal wieder ordentlich Feuer zu spucken. Wenckes Tischnachbarin, eine Schweizer Wirtschaftsjournalistin, hatte furchtbare Angst, ein zweites Pompeji erleben zu müssen, und bekam keinen Bissen herunter. Erst als Jarle Yngvisson, der ihnen gegenübersaß, seinen Charme einsetzte und isländische Vulkanwitze zum Besten gab, beruhigte sie sich allmählich.
»Ein Amerikaner, ein Deutscher und ein Isländer steigen auf den Herðubreið und schauen in den Krater …«
Schon an dieser Stelle musste Wencke lachen. Wie lange hatte sie keinen Witz mehr gehört, der auf diese Weise begann?
Über das dramatische Finale beim Eröffnungskonzert schwieg man diskret. Karl Hüffart war wohl mit Beruhigungsmitteln versorgt und ins Hotelzimmer verfrachtet worden. Silvie, mit leichter Verspätung ab dem zweiten Gang anwesend, hatte sich knapp für den plötzlichen Abschied in der Hallgrímskirkja entschuldigt und um Verständnis gebeten. Anschließend war sie wieder mühelos in die Rolle der nonchalanten Politikergattin geschlüpft wie in einen seidenen Morgenmantel. Doch Wencke wusste, Silvie riss sich ordentlich zusammen. Wenn sie Weißwein trank, links lächelte und rechts plauderte, dann tat sie dies mit Sicherheit nur, um den Eindruck zu erwecken, alles sei bloß halb so schlimm gewesen, ein kleiner Fauxpas, nicht der Rede wert und vor allem kein Thema für die Titelblätter.
Innerlich aber musste sie brodeln. Der Zusammenhang zwischen dieser alten Sage um den toten Baldr und der Ermordung von Jan Hüffart war einfach zu offensichtlich. In dem Moment,als das Bild so überdimensional auf die weiße Leinwand geworfen worden war, hatte selbst Wencke glühend heiße Beschämung verspürt. Hüffarts entgleiste Gesichtszüge und das hektische Davoneilen von Silvie waren kaum mitanzusehen gewesen. Auch wenn Wencke ihre alte Schulkameradin nicht sonderlich mochte: Wie Silvie hier im Speisesaal des Luxushotels gerade Rückgrat bewies, war beachtlich.
Der Hoteldirektor erschien zwischen Fisch- und Fleischgang, begrüßte die Gäste auf Englisch, hielt eine kurze Rede über die wichtigen Menschen, die schon in diesem Traditionshaus genächtigt hatten, und brachte die Tischrunde naturkatastrophenmäßig auf den neuesten Stand: Die Aschewolke hatte inzwischen eine Höhe von acht Kilometern, zog Richtung Süden und stellte keine Bedrohung für Leib und Leben dar, lediglich für den reibungslosen Ablauf des Flugverkehrs.
Trotzdem schob die Schweizerin wieder das Besteck zur Seite. »Was ist mit der Lava?«
Jarle legte seine Hand beruhigend auf den goldbereiften Unterarm. »Der Vulkan befindet sich so ziemlich in der Inselmitte. Rundherum ist genug Platz für Unmengen von Lava, die zudem auch noch sehr träge ist und eine Höchstgeschwindigkeit von höchstens zwei Stundenkilometern erreicht. Sie werden sich keine Brandblasen an den Fußsohlen holen, versprochen!«
Die Frau lächelte schwach und Wencke fragte sich, wie man sich beruflich mit den Berg- und Talfahrten der Wirtschaft beschäftigen und dann eine solche Angst vor Vulkanausbrüchen haben konnte.
»Vielleicht haben wir es uns auch einfach mit den Geisterwesen verscherzt. Der Sage nach ist der Herðubreið nämlich nichts Geringeres als der Sitz des Gottes Thor.« Jarle grinste. Er spielte anscheinend gern auf die alten Mythen an. Vorhin hatte er im Trinkspruch der Elfen und Trolle gedacht, die unsichtbar mit ihnen am Tisch säßen.
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