Götterfall
dringend etwas unternehmen, wenn nicht alles, was sie in den letzten Jahren aufgebauthatte, durch diese isländische Sagengeschichte zunichtegemacht werden sollte. Warum unbedingt ein toter Junge? Ein Floß? Es gab doch so viele Geschichten, warum wurde ihnen ausgerechnet diese zugemutet?
Auch Lena Jacobi eilte nun zu Hilfe. »Brauchen Sie ein Glas Wasser, Herr Dr. Hüffart?« Ein Glas Wasser! Was sollten sie jetzt mit einem Glas Wasser? Das nervige Fräulein machte alles nur noch schlimmer. Je mehr Leute um den Rollstuhl herumtanzten, desto nervöser wurde Karl.
Silvie nahm das Mikrofon in die Hand. »Sie müssen uns entschuldigen. Sie werden vermutlich nicht wissen, dass mein Mann vor vielen Jahren einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat und uns diese Geschichte, die Sie erzählen, daran erinnert.« Sie schaffte es zum Glück, auch ein bisschen Wasser zwischen die Lider laufen zu lassen. Die tief betroffene Politikergattin, ja, sie musste noch ein wenig dramatischer sein als Karl und so die Aufmerksamkeit von ihm ablenken. »Es tut uns leid. So sorry for that! We just have to leave right now.« Die Griffe des Rollstuhls umklammert, löste Silvie die Bremse und ließ Karl zügig die Rampe herunterrollen. Schnell weg von hier!
Natürlich sprangen die Journalisten nach vorn, versperrten ihnen sogar den Weg durch den Mittelgang, knipsten, filmten – wirkten wie eine Horde Hyänen, die sich auf ihre verwundete Beute stürzt. Endlich hatten sie ihr Bild!
Silvie wurde schneller, stolperte fast über den grauen Teppich. Ihre schicken Pumps waren nicht zum Davonrennen gedacht und sie wünschte, sie könnte sich in Luft auflösen, mitsamt Rollstuhl und darin sitzendem Ehemann. Der schrie um Hilfe.
Halt den Mund, Karl, mach es nicht noch schlimmer.
»Hilfe! Ich werde entführt! Hilfe!«
Sei still! Bitte!
Zum Glück hielten zwei Sicherheitsleute die Türen auf, sienickten ihr konsterniert zu, Silvie grüßte kurz zurück und sputete sich. Ob das Taxi schon da war? Nie hatte sie sich so danach gesehnt, in einem Auto zu sitzen, die Türen zuzuknallen, um dann im geschützten Innenraum eines Saab oder Volvo im Straßenverkehr abzutauchen. Doch das Glück war heute nicht auf ihrer Seite. Der große Platz vor der Kirche zeigte sich bis auf eine Gruppe Touristen, die sich um das steinerne Denkmal eines Wikingers versammelt hatten, verwaist.
Geradeaus konnte man eine lange Straße einsehen: kein Taxi weit und breit. Und hinter ihrem Rücken öffneten sich die Kirchentüren wieder, der Mob war ihr anscheinend auf den Fersen.
Doch als sie sich umdrehte, trat ihr nur eine Person entgegen: Lena Jacobi. Drinnen waren die Sicherheitsleute damit beschäftigt, die neugierige Presse zurückzuhalten.
»Was ist denn passiert, um Himmels willen? Haben wir etwas falsch gemacht?« Irgendwie wollte Silvie dieser grauen Maus das schuldbewusste Getue nicht so richtig abnehmen. Sie konnte nicht genau benennen, weshalb sie dem reumütigen Geplauder nicht traute. War es die aufrechte Haltung der Schultern? Der gerade Blick ins Gesicht? Es passte nicht zusammen, dass Lena Jacobi ihr Mitgefühl beteuerte und dabei dastand wie eine, die gerade ein hart umkämpftes Match gewonnen hatte.
»Bitte, Frau Jacobi, wie Sie sehen, geht es meinem Mann nicht gut. Sie sind zu jung, Sie waren wahrscheinlich noch nicht einmal geboren, als …«
»Als sein Sohn ermordet wurde?«
Silvie war perplex. Wusste diese Person etwa davon? Dann hätte sie doch wirklich etwas sensibler sein können mit der Auswahl ihrer Multimediapräsentationen. »Ich verstehe nicht, das Taxi hätte doch auch schon hier warten können. Bitte rufen Sie umgehend …«
»Ich vermute, das hat nur wenig Sinn«, unterbrach Lena Jacobi.
»Wie bitte? Ich glaube, Sie missverstehen mich. Wir reisen ab. Jetzt sofort. Unser Gepäck ist bereits zum Flughafen gebracht worden.«
»Dort wird es auch noch immer stehen. Heute geht kein Flieger mehr.« Ein dünnes Lächeln umspielte die farblosen Lippen.
Silvie durchsuchte ihre Handtasche, hielt das Onlineticket hoch, am liebsten hätte sie es dieser Lena Jacobi an die Stirn geklebt. »Sehen Sie? Abflug 22.45 Uhr, 2 Personen, VIP.«
»Ich habe eben eine Nachricht per SMS bekommen. Der Herðubreið ist ausgebrochen.«
»Der was?«
»Einer von Islands berühmten Vulkanen. Solange dieser Berg seine Aschewolken in den Himmel bläst, bleiben alle Flugzeuge am Boden. Und die nächste Fähre nach Norwegen geht erst kommenden Dienstag.«
Silvie
Weitere Kostenlose Bücher