Götterfall
»Sollten wir uns schlecht benehmen,steigt Odin höchstpersönlich aus dem Krater. Und ein Hauptgott spart bei einem Auftritt natürlich nicht mit Pyrotechnik!« Die Wirtschaftsexpertin aus dem alpinen Steuerparadies teilte seine Art von Humor augenscheinlich nicht.
Die Kellnerinnen trugen das Lammfilet in Blaubeersoße auf und Jarle nutzte die Gelegenheit für einen Exkurs ins Kulinarische: »Dies ist eine der wenigen isländischen Spezialitäten, die auch für den mitteleuropäischen Gaumen schmackhaft sein dürften. Wir hatten kurz überlegt, Ihnen andere Leckereien zu servieren, für die unser Land bekannt ist …«
»Die da wären?«, hakte die Schweizerin nach.
»Gefüllter Lammkopf oder Gammelhai.« Jarle bemerkte die skeptischen Blicke. »Der Hai wäre im frischen Zustand giftig, deswegen lassen wir ihn einige Monate verwesen, er sondert Ammoniak ab und schmeckt dann beinahe lecker, insbesondere mit einem isländischen Branntwein …«
Jarle mochte ein Meister der Konversation sein, aber der neue Gesprächsstoff kam nicht so richtig gut an, die meisten Zuhörer wandten sich mit deutlichem Missfallen ab. Wencke hingegen amüsierte sich. »Die Isländer scheinen mir exotischer zu sein als manche Naturvölker in Ozeanien!«
Er schenkte Wein nach, stieß sein Glas gegen ihres, und ihm war deutlich anzumerken, dass er eher Lust auf Wortwitz hatte, statt einer überängstlichen Businesslady die Hand zu tätscheln.
»Was sollte diese bizarre Einlage mit der Baldr-Sage?« Die Frage hatte Wencke schon die ganze Zeit stellen wollen. Jetzt, wo die restliche Tischgesellschaft sich in andere Richtungen orientiert hatte, waren sie ja quasi unter sich. »Wenn Sie sich auf Ihren Ehrengast vorbereitet haben – wovon ich natürlich ausgehe –, hätten Sie ahnen müssen, wie unglücklich dieses Bild gewählt war.«
Er sagte nur: »So, hätte ich das?« Dann widmete er sich genüsslich seinem Lammsteak.
»Jeder, der den Namen Karl Hüffart googelt, stößt bald auf sein privates Schicksal.« Wencke hatte keinen Moment daran gezweifelt, dass Karl und Silvie Hüffart, aber wahrscheinlich auch sie selbst heute in einer bestimmten Absicht so knallhart mit der Vergangenheit konfrontiert werden sollten. Doch welche Absicht das war, wollte sich ihr einfach nicht erschließen. »Außerdem sagten Sie, Sie hätten in Deutschland studiert. Wann war das?«
»In den achtziger und neunziger Jahren.«
»1994 waren die Titelblätter voll von dieser Geschichte, kein Radiosender oder TV-Kanal, der nicht über die Entführung und Ermordung des Jungen berichtet hätte. Selbst einem isländischen Studenten wäre das nicht entgangen.«
»Da widerspreche ich Ihnen nicht.« Er nahm einen Schluck Wein. »Ich liebe die Mythen meiner Kultur. Und diese Sage ist eine der bekanntesten in Island. Wer zu einem Symposium reist, in dem man sich mit den Zusammenhängen zwischen alten Geschichten und moderner Politik auseinandersetzt, wird früher oder später bei Baldr und Loki landen. Sie stehen für den elementarsten aller Kämpfe.«
»Wer gegen wen?«
»Gut gegen Böse.« Er zerdrückte seine gebackene Kartoffel, vermengte sie mit der Soße – eine Essgewohnheit, die Wencke noch weniger mochte als eingestippten Keks im Kaffee – und ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Wir Isländer glauben fest, dass die alten Geschichten uns auch heute noch bedeutende Botschaften vermitteln können. Wir sollten daraus lernen.«
»Und was, bitte schön?«
»Es war Schicksal, dass Baldr sterben musste. Das Prophezeite war nicht zu verhindern.« Jarle sagte das mit einem solch wissenschaftlichen Ernst, dass man glauben mochte, er würde sich gerade über die Pleite der isländischen Staatsbank unterhaltenstatt über eine tausend Jahre alte Geschichte. »Die Götter hielten es für schlau, ihn unverwundbar zu machen. Das war ein Fehler. Nicht die Waffe an sich bringt den Tod, sondern immer derjenige, der sie zu bedienen weiß.«
»Was macht denn da den Unterschied?«
Er dachte einen Moment nach, und man merkte ihm an, wie er das Gespräch genoss. »Baldr wurde durch einen Mistelzweig getötet, den sein Bruder im Spiel auf ihn abgefeuert hatte. Doch Drahtzieher des Ganzen war Loki, er ist derjenige, der die Waffen zu bedienen weiß.«
»Höre ich da einen Bezug zum Fall Hüffart heraus?«
»Sein Sohn war ebenfalls Opfer einer langen Kette von fatalen Umständen, oder nicht? Wer dann ganz am Ende als der tatsächliche Mörder übrig bleibt, ist sehr
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