Götterfall
Tablette auf seine Handfläche und hielt sie der Ärztin hin. »Die ist oval, auf einer Seite ist ein T und eine 20 eingestanzt.«
»I know it«, sagte die Medizinerin. »Thiamazol!« Dann verfiel sie wieder ins Isländische und Wenckes Wissensstand hing davon ab, dass Jarle den Dolmetscher spielte. »Sie sagt, es ist ein ziemlich starkes Mittel gegen … wie war das?«
»Skjaldkirtillheilkenni!«
»… gegen eine Schilddrüsenerkrankung. Wusstest du, dass Hüffart damit Probleme hat?«
»Ja«, musste Wencke zugeben. »Silvie hat so etwas erwähnt.« Sie spürte eine leichte Enttäuschung. Hatte ihr Bauchgefühl sie im Stich gelassen, als es ihr sagte, dass die Pillen etwas mit Hüffarts Demenz zu tun hatten?
»Meine Cousine meint, es sei eine hohe Dosierung. Das Mittel gibt es auch in wesentlich geringeren Konzentrationen.«
»Dann muss Hüffart aber ziemlich stark betroffen sein, gestern während der Stadtrundfahrt hat Silvie ihm ständig diese Pillen eingeworfen.«
Jarle übersetzte, lauschte, fragte nach: »Wie oft hat er dieses Thiamazol bekommen?«
»Na, ich schätze mal, alle vier Stunden.«
Als die Ärztin das hörte, schüttelte sie ungläubig den Kopf und redete wieder auf Jarle ein.
»Meine Cousine sagt, das sei eine Überdosierung. Das Mittel wirkt gegen eine Überfunktion der Schilddrüse und hemmt die Aufnahme von Jod. Doch in solchen Mengen wären die Nebenwirkungen bald unangenehmer als das Leiden, gegen das die Tabletten helfen sollen.«
Wencke horchte auf. »Welche Nebenwirkungen?«
Wieder ein isländisches Kauderwelsch, doch an Jarles Gesichtsausdruck konnte Wencke erkennen, dass auch er verstand, worauf sie mit dieser Frage hinauswollte.
»Unter anderem Aufgedunsenheit, fahle Haut, geistige Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit und ein eingeschränktes Erinnerungsvermögen …«
»Frag sie, was passiert, wenn man dieses Zeug nach so hoher Dosierung von einem Tag auf den anderen absetzt!«
Er fragte. »Meine Cousine sagt, die Schilddrüsenprobleme tauchen erst allmählich wieder auf, da können wir unbesorgt sein.«
»Und die Nebenwirkungen?«
»Diese Probleme treten nur vorübergehend auf und sind mitAbsetzen des Thiamazols in der Regel restlos verschwunden«, übersetzte er.
Sie sahen sich beide schweigend an. Wahrscheinlich stellten sich ihnen in diesem Moment dieselben Fragen: Wenn Hüffart wieder auftauchte – und daran wollte wohl keiner von ihnen zweifeln –, würde er dann plötzlich wieder über einen halbwegs klaren Verstand verfügen, weil ihn seine liebende Gattin eine Weile lang nicht mit diesen Pillen füttern konnte?
[15. Juni, 19.48 Uhr, Vegarslóð in der Nähe von Areyjar, Island]
Sie trafen sich im äußersten Osten, irgendwo am Fuß eines schroffen Berges, der wie vom langen, schmalen Fjord zerschnitten ins Meer abfiel.
Gleich nachdem Silvie völlig aufgelöst bei Alf Urbich angerufen hatte, war ein Chauffeur geschickt worden, um sie abzuholen. Die stundenlange Warterei in dem kleinen, zugigen Holzhäuschen am Gletschersee war bereits eine Zerreißprobe für die Nerven gewesen, doch die Fahrt stellte eine noch größere Strapaze dar, obwohl sie in einem komfortablen Mercedes-GL reisten.
»Passen Sie auf!«, hatte Silvie den Fahrer mehrmals ermahnt, oder: »Bitte drosseln Sie das Tempo!« Schließlich war die ungepflasterte Straße bestenfalls fünf Meter breit und führte über steile Kuppen, man konnte nie sicher sein, ob einen nicht im nächsten Augenblick der Gegenverkehr zum plötzlichen Ausweichen zwang und man dann den tiefen Abhang in steinige Schluchten hinunterrauschte. Als sie gerade sicher war, es könne nicht schlimmer werden, bog der Wagen nach rechts ab und bretterte auf einer Piste ins Tal, die man bestenfalls erahnen konnte. Horror! Zwar war sie krank vor Sorge, was mit Karl geschehen sein könnte, wo er steckte, wie es ihm ging, aber Silviedankte auch dem Herrn im Himmel, dass ihr geschwächter Mann diesen Trip über die Schotterbahn nicht mitmachen musste. »Vorsicht, das Schlagloch!« Rums!
Anfangs hatte Silvie noch angestrengt aus dem Fenster gestarrt in der absurden Hoffnung, Karl irgendwo zu entdecken. Am Straßenrand oder weiter hinten in der zerklüfteten Landschaft. Doch nun waren sie über zweihundert Kilometer weit gefahren und die Hoffnung, hier auf ein Lebenszeichen von Karl zu stoßen, war schlichtweg unrealistisch. Seit sieben Stunden war er bereits verschwunden. Silvie musste ihre Sorge verdrängen, ansonsten würde sie
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