Götterfall
wahnsinnig werden. Doch das gelang ihr nicht.
Allein auf sich gestellt war Karl völlig hilflos! Dazu kam, dass er seine Medikamente nicht würde nehmen können.
Gott, was sollte sie bloß tun? Worauf würde das hinauslaufen? Was, wenn die Wirkung nachließ und Karl allmählich … Nein, diesen Gedanken musste sie ganz weit wegschieben. Es war sinnlos, sich den Kopf zu zerbrechen. Sie hatte das Richtige getan und sich auf den Weg zu Alf Urbich gemacht. Dieser Mann war der Einzige, der dieser Situation gewachsen war. Hoffentlich.
Die Gegend war dermaßen karg, es fanden sich noch nicht einmal zottelige Schafe, die ansonsten überall auf der Insel frei herumliefen und den Straßenverkehr behinderten. Kein Wunder, zu fressen gab es hier nichts außer dem Staub, der hinter ihrem Wagen eine meterhohe Wolke bildete.
Das Aluminiumwerk lag auf halber Strecke zwischen Höfn – das war der Ort, an dem sie Wencke ins Krankenhaus gebracht hatten – und der nächstgrößeren Gemeinde Egilsstaðir. Den Namen des kleinen Hafenkaffs, das früher wahrscheinlich von Fischfang gelebt hatte und nun einzig und allein als Schlaf- und Arbeitsstätte der AlumInTerra- Angestellten diente, hatte Silvie vergessen oder verdrängt, es waren einfach zu viele fremdartigeKonsonanten darin enthalten. Sie hatte gewusst, dass das Dorf winzig war, doch als nun die Handvoll Häuser und Mietskasernen unter ihnen auftauchten, war Silvie gelinde gesagt überrascht: Hier gab es ja so gut wie gar nichts! Lediglich ein riesiges Containerschiff quetschte sich in den Hafen, doch wahrscheinlich war das täglich der Fall, denn das Rohmaterial, aus dem das kostbare Aluminium mit einem gewaltigen Aufwand gewonnen wurde, kam auf Island natürlich nicht vor und musste extra aus Australien und Brasilien eingeschifft werden. Auf der Rückreise nahmen die Hochseefrachter dann das fertige Metall mit in die Länder, die daraus Autos, Staubsaugerteile oder vielleicht auch eine original italienische Espressokanne fertigten. In der Firmenbroschüre, die auf der Rückbank gelegen und die sie kurz studiert hatte, war Globalisierung eines der häufigsten Schlagworte. Kein Wunder, AlumInTerra besaß Werke in mehr als dreißig Ländern. Doch dieser Ort auf Island war so etwas wie das Prestigeobjekt des Großkonzerns. Wenn Silvie nicht ziemlich genau gewusst hätte, wie schmutzig es in der Wirtschaftspolitik zuging, sie hätte den Aussagen über effiziente Nutzung natürlicher Energiequellen nur zu gern Glauben geschenkt.
Die Firmengebäude selbst bestanden aus drei unspektakulären langen Betonquadern mit Fenstern, daneben ragten die Stahlskelette der Hochspannungsmasten in die Höhe und ordneten die armdicken Leitungen, durch die unvorstellbare Energiemengen vom Stausee im Hochland hinunter ins Tal geschickt wurden. Der Himmel über ihnen war von schwarzen Parallelen zerschnitten.
Der Chauffeur, der den Wagen auf ein Tor zusteuerte, welches sich in diesem Moment magisch öffnete, war bislang extrem einsilbig, aber vielleicht hatte Silvie ihn in den vergangenen Stunden auch nur etwas verärgert mit ihren Kommentaren von der Rückbank.
»Da wären wir«, sagte er nun, fuhr eine schnittige Kurve und hielt vor dem Haupteingang. Gut erzogen wie er war, kam er mit schnellem Schritt an ihre Autoseite geeilt und öffnete die Tür. »Herr Urbich erwartet Sie in seinem Büro, ich werde Sie dorthin begleiten.«
Sie ließ sich aus dem Wagen helfen. »Was ist mit dem Gepäck?«
»Dafür werden wir selbstverständlich sorgen, Frau Hüffart. Meines Wissens ist eine Suite für Sie reserviert.«
»Hier gibt es doch nicht etwa ein Hotel?«
»Hotel wäre der falsche Ausdruck. Wir halten ein Dutzend Gästezimmer bereit für Vorstandsmitglieder oder andere hochrangige Besucher. Höchster Komfort, luxuriöse Ausstattung, seien Sie unbesorgt. Nicht für jeden zugänglich.«
Silvie war erleichtert. Sie hatte schon befürchtet, in den nächsten Minuten den altbekannten Reisebus auftauchen zu sehen, in dem Lena Jacobi die anderen Symposiumsteilnehmer rund um die Insel transportierte. Vor denen war sie nämlich gleich nach Karls Verschwinden geflüchtet, die neugierigen Fragen und die Kommentare waren schlichtweg nicht länger auszuhalten gewesen. Zudem misstraute sie Lena Jacobi nach wie vor. Silvie hatte den Eindruck, dass diese graue Maus ihr feindselig begegnete. Wahrscheinlich eine vom linken Flügel, die Karls politisches Schaffen infrage stellte. Von dieser Sorte gab es einige,
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