Götterfall
Zug frühmorgens in Hannover hielt, hab ich mich anders entschieden – und bin spontan ausgestiegen. Erstens konnte ich so meinen unliebsamen Schatten abhängen. Und zweitens war es wirklich höchste Zeit, meine Eltern zu besuchen. Dieses nette, langweilige Spießerpärchen. Ich wollte mir von meiner Mutter einen Kakao kochen lassen und mit meinem Vater über Politik streiten. Ein oder zwei Tage lang. Deswegen bin ich jetzt hier, in meinem Mädchenzimmer. Wer weiß, vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, ihnen zu erzählen, daß sie demnächst Oma und Opa werden.
Hauptsache, ich habe meine Ruhe. Eine kurze Pause. Ein bißchen schlafen wäre nicht schlecht.
Nachher noch in den Herrenhäuser Gärten joggen gehen.
D.
[15. Juni, 22.22 Uhr, Gästezimmer, þrihyrningsvat , Island]
Ein bißchen schlafen wäre nicht schlecht …
Wencke betrachtete das Datum, als wäre es weit mehr als nur eine Zahlenreihe mit Punkten dazwischen. Sie wusste, was am 26. Januar 1994 passiert war, kurz nachdem Doro diesen Brief geschrieben hatte. Nach dem Joggen in den Herrenhäuser Gärten war ihre Freundin in einen Schlaf gefallen, der so lang und so grausam war, wie Doro ihn sich niemals gewünscht hätte. Da fand sich tief in Wenckes Langzeitgedächtnis noch dieses Bild von der fremden Frau in einem Krankenbett, ein aufgeschwemmtes, bleiches Gesicht auf dem Kissen, halb geöffnete, nutzlose Augen und struppiges Haar. Dorothee Mahlmann hatte am Fußende unter dem durchsichtigen Plastik gestanden, das war eindeutig der Name ihrer Freundin, doch die Komapatientinhatte damit nichts zu tun gehabt. Deshalb war Wencke niemals wieder zu Besuch gekommen. Sie hatte sich eingeredet, dass Doro einfach nur verschwunden war, auf und davon, denn das war besser zu ertragen gewesen als diese erzwungene, an Schläuchen hängende Trägheit.
Dieser Brief war der schlimmste von allen. Weil er von Doros Ende erzählte. Davon, dass sie sich verfolgt gefühlt hatte. Ein Mann mit rotblondem Bart? So wie der, der sich so viele Jahre später an Wenckes Fersen geheftet und wahrscheinlich versucht hatte, sie im Gletschersee zu entsorgen? Wencke schüttelte den Gedanken ab. Nein, das passte zu gut zusammen, um wahr zu sein. So funktionierte die Wahrheit eigentlich nicht. Und das machte Wencke misstrauisch.
»Wencke? Alles in Ordnung?« Jarle stand unten vor dem Fenster, schaute zu ihrem Zimmer hoch und sah etwas besorgt aus. Kein Wunder, er wartete nun schon länger als zwanzig Minuten auf sie.
Wer bist du?, dachte Wencke. Warum hast du mir nicht erzählt, dass du Doro kennst und ihr so kurz vor ihrem endgültigen Knock-out begegnet bist? Weshalb verschweigst du, dass diese Formel, um die es damals ging, deinem Hirn entsprungen ist?
Er winkte ihr zu und lachte.
Und warum verdammt noch mal fällt es mir so schwer, dich zu durchschauen? Immerhin bin ich Fallanalytikerin, es ist mein Job, Zusammenhänge zu erkennen und Verbrecher zu entlarven. Aber bei dir, Jarle Yngvisson, bleibt mein Alarmsystem stumm. Als wäre mein Spürsinn neutralisiert.
»Komm doch runter, Wencke, keine Angst, der Vulkan lässt uns in Ruhe!«
Ich werde auf keinen Fall so unvernünftig sein und mich zu allem Überfluss auch noch in dich verlieben, schwor sich Wencke.
Es gab drei handfeste Gründe, das nicht zu tun: Erstens hatteJarle noch vor Kurzem eine Beziehung mit Wenckes Mutter. Zweitens war sie selbst gerade erst mit einer Menge Blessuren aus einer Chaosbeziehung hinauskatapultiert worden. Drittens war sie hier auf Island in eine sehr verworrene Geschichte geraten und es war absolut möglich, dass ausgerechnet Jarle die Fäden in der Hand hielt.
Okay, sie würde jetzt hinuntergehen, mit ihm Wein trinken und ihn offen und direkt nach seiner Begegnung mit Doro fragen. Mehr nicht!
Skuld
[… der letzte Tag …]
Drei Nornen sind es, die das Schicksal leiten werden.
Urð, Verðandi und Skuld.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
Sie sitzen seit jeher an den Wurzeln der Welt, kennen das Schicksal schon immer und verschweigen es doch. Eingreifen können sie nicht. Und so haben sie alles Wissen, aber eben doch keine Macht.
Jetzt sitzt die Gegenwart neben mir, ganz nah, ich kann sie riechen, bald fühlen und schmecken. Sie schaut mit mir in den Himmel, der hell bleiben wird und damit nie verrät, wann der letzte Tag gerade angebrochen ist.
Der nur verraten wird, dass die Erde vergeht, dass sie aus Feuer besteht, aus Wasser und Luft. An diesem Ort wird alles vereint. Sie sieht es,
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