Götterschild
»Wenn du ein bisschen darin herumkratzt, kommt noch mehr Blut als aus den Lippen, ohne dass es deshalb gleich eine große Wunde gibt.«
»Ich habe aber keine Lust mehr, ständig irgendwo ein paar Blutstropfen herauszuquetschen«, widersprach Rai streitlustig. Er war nicht auf den Ecorimkämpfer wütend, sondern auf ihre gesamte vertrackte Lage, aber er konnte schließlich nicht die Kellerwände anschreien. Also musste Meatril herhalten. »Bloß damit wir irgendwelche Nachrichten auf ein paar Stofffetzen kritzeln können, die dann sowieso keiner liest.« Er sprang auf. »Wie viele Nachrichten haben wir jetzt schon geschrieben? Zwanzig? Dreißig?«
»Na, ganz so viele werden es noch nicht gewesen sein«, murmelte Meatril, der offenbar keine Lust auf einen Streit verspürte. Wohl auch deshalb hielt er erst einmal Targ den Napf hin.
»Weißt du«, reagierte dieser ebenso gereizt auf die Aufforderung, etwas von seinem Blut in den Napf fließen zu lassen, »Rai hat recht. Das ist völlig sinnlos. Am Rand des Kellerschachts muss doch schon ein ganzer Haufen mit blutbeschmierten Stofffetzen liegen und keiner schert sich darum. Oder die Soldaten räumen unsere Nachrichten jeden Tag weg und lachen herzlich über die armseligen Idioten, die da in ihrem Gefängnis sitzen und buchstäblich ihr letztes Hemd geben, für nichts und wieder nichts.« Er deutete verächtlich auf seine nur noch bis knapp über die Knie reichenden Hosenbeine, die er streifenweise zum Aufzeichnen ihrer Hilferufe geopfert hatte. »Wir haben Glück, dass Sommer ist, sonst würden wir in diesen kümmerlichen Fetzen wahrscheinlich erfrieren.«
»Das kann ja noch kommen«, meinte Rai zynisch. »Wer weiß, wie lange wir hier noch bleiben müssen.«
»Und? Habt ihr einen besseren Vorschlag?« Meatril musste sich jetzt sichtlich zusammenreißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Euer Gejammer hilft uns nämlich auch nicht wirklich weiter. Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Wahrscheinlichkeit größer, dass Tarana, Daia und die Kinder in Megas’ Fänge geraten. Ich würde ihm auch lieber mit dem Schwert in der Hand entgegentreten, aber das geht nicht, solange wir eingesperrt sind. Was soll ich also tun?«
Weder Rai noch Targ wollte daraufhin etwas Vernünftiges einfallen und letztlich ließen beide ratlos die Köpfe sinken.
»Gut, das wäre damit geklärt«, brummte Meatril müde. Er hielt Targ erneut die kleine Schüssel vors Gesicht und dieser nahm sie wortlos in die Hände. »Wir tun, was wir können«, fuhr er fort. »Und das ist unter den gegebenen Umständen nicht gerade viel.«
Genau in diesem Moment hörten sie wieder das vertraute Geräusch des Schlüssels, wie er in dem schweren Türschloss herumgedreht wurde. Eigentlich war es noch etwas zu früh für die tägliche Essenslieferung, deshalb wandten sich alle Augen fragend zur Tür, als diese knarrend aufschwang. Doch statt der erwarteten Wachen sahen sie nur eine einzelne, in einen dunklen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt mit einer Öllampe in der einen und einem langen, gekrümmten Messer in der anderen Hand.
»Hier sind sie«, stellte der Unbekannte nach hinten gewandt fest und trat von der Tür zurück.
Daraufhin erschien eine weitere Person im Türrahmen, die sich auf den ersten Blick kaum von der vorigen unterschied. Auch sie trug eine Lampe und eine Waffe und war dunkel gekleidet mit einer weiten Kapuze über dem Kopf.
»Also, die Unterkünfte in Seewaith sind auch nicht mehr das, was sie mal waren«, ertönte eine sanfte, eindeutig weibliche Stimme. Die Unbekannte streifte die Kapuze ab und ein roter Haarschopf quoll darunter hervor.
»Shyrali!«, rief Meatril überwältigt. Er machte drei große Schritte und schloss sie in seine Arme. »Mit dir hätte ich am wenigsten gerechnet.«
»Ich wusste doch, dass ihr ohne mich in Schwierigkeiten geratet«, meinte sie lachend. Dann rümpfte sie spöttisch die Nase und befreite sich aus Meatrils Umarmung. »Und als Erstes werde ich dafür sorgen, dass du möglichst bald ein Bad nehmen kannst.« Sie sah mitleidig in die Runde. »Das würde euch allen nicht schaden, wie es scheint. In was für ein Loch hat euch der verdammte Megas nur geworfen?«
»Was ist mit den Wachen?«, erkundigte sich Meatril besorgt.
»Die schlafen tief und fest in einem der anderen Kellerräume, in den wir sie gebracht haben«, erklärte Shyrali nicht ohne Stolz. »Denen ist wohl ihr Mittagsmahl nicht gut bekommen.« Sie blinzelte unschuldig. »Vielleicht lag
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