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Götterschild

Titel: Götterschild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rothballer
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schließlich schob sich ein Schatten vor die Stammöffnung. Thalia erschauerte. Gleich würde der Mann sie finden, dann war es vorbei. Fast instinktiv öffnete sie ihren Geist, um wenigstens ein paar Gedanken von ihm aufzuschnappen. Augenblicklich nahm sie die verschiedensten Dinge wahr, mit denen sie aber nicht viel anfangen konnte. Etwas lag jedoch so deutlich über dem Denken des Mannes, dass es ihr nicht entgehen konnte: eine alles dominierende Kälte, wie sie sie noch bei keinem der Istanoit gespürt hatte. Es wirkte so, als sei der Geist des Mannes frei von all denjenigen Empfindungen, die Thalia als angenehm beschreiben würde. Seine Gedanken schienen stattdessen aus kaltem Stahl zu bestehen, so spitz und erbarmungslos wie die Lanzen der Schwarzhelme.
    Im nächsten Augenblick begann der Mann, das Moos am Eingang ihres Verstecks wegzureißen. Sie musste irgendetwas tun, sonst waren sie und ihr Bruder verloren! Aus blanker Not kehrte Thalia ihre Gedanken nach außen und versuchte, den Geist des Unbekannten zu erreichen. Eine vage Idee war ihrer Verzweiflung entsprungen und daran klammerte sie sich nun aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz.
    Was sie jetzt brauchte, war kein gezielter Gedankenruf wie bei ihrer Mutter zuvor, sondern eher etwas wie ein geistiger Faustschlag. Sie musste versuchen, die eisigen Gedanken des Kerls hinwegzufegen, um ihm ihre Botschaft so tief in den Kopf zu treiben, dass er sie für seine eigene Erkenntnis hielt. Sie hatte keine Ahnung, ob so etwas überhaupt möglich war, noch ob ihre Kraft dazu reichen würde. Aber sie wusste, dass es ihnen ergehen würde wie Felb, wenn sie scheiterte.
    Da fiel ihr plötzlich Arlion wieder ein und wie sehr er ihr beim Auffinden ihrer Mutter geholfen hatte. Deshalb verband sie sich mit seinem Geist, so wie sie es schon vorhin für den Hilferuf an Tarana getan hatte. Sofort spürte sie seine Überraschung und Angst, aber sie hatte keine Zeit für Erklärungen. Sie raffte all die verstreuten Gedanken ihres kleinen Bruders zusammen, als sammle sie Kieselsteine am Fluss, und vereinigte sie mit ihren eigenen. Dann füllte sie ihr gemeinsames Denken mit einem einzigen Satz, bis kaum mehr Raum für irgendetwas anderes blieb. Sie spürte noch einmal nach dem Geist des dunklen Fremdlings und als sie sicher war, dass sie ihr Ziel nicht verfehlen konnte, ließ sie den vereinten Gedankenstrom beider Geistgeschwister über ihn hinwegbrausen. Er sollte denken, was sie dachte. Er sollte an etwas glauben, dem seine Sinne widersprachen, und etwas offensichtlich Falsches für wahr halten. Und die Wahrheit, wie sie Thalia in seinem Verstand erschuf, lautete schlicht: ›Hier ist niemand!‹

 
IM REGEN
     
    D raußen ging ein prasselnder Regenschauer in den Straßen Seewaiths nieder. Ein kleines Rinnsal fand den Weg von der Oberfläche zum Kellerschacht und lief dann in mehreren sich verzweigenden Wasserfäden an der dunklen Wand hinab bis zum Boden. Dort bildeten sich im spärlichen Licht, das auf dem gleichen Weg wie der Regen hereinkam, schillernde Pfützen.
    Rai drückte seine Handfläche gegen die Mauer und ließ eines der winzigen Bächlein über seine Finger laufen. Er beneidete das Wasser. Es konnte kommen und gehen, wie es ihm gefiel. Es floss einfach zwischen den Gitterstäben ihrer Zelle hindurch und verschwand dann wieder durch irgendwelche Ritzen im Erdboden. Was würde er jetzt darum geben, ebenso seine Gestalt wandeln zu können wie diese Wassertropfen. Stattdessen saß er immer noch tief unter dem Ratsgebäude der Stadt Seewaith fest. Sosehr er das Bergwerk von Andobras auch gehasst hatte, dort war er wenigstens tagtäglich beschäftigt gewesen. Meist hatte ihn zwar der nackte Kampf ums Überleben kaum zu Atem kommen lassen, aber immerhin war er nicht ständig so von Langweile gequält worden wie jetzt. Nichts zu tun zu haben, tagein, tagaus, konnte einem den Verstand rauben, davon war Rai mittlerweile überzeugt. Vielleicht stand er schon kurz davor.
    »Es ist wieder so weit«, sagte Meatril matt und raffte sich vom Boden auf. Er hielt einen leeren Essnapf in der Hand. »Diesmal können wir es mit ein wenig Wasser strecken, also brauch ich von jedem nur ein paar Tropfen. Sobald der Regen aufgehört hat, werfen wir die Nachricht wie immer durch den Kellerschacht nach draußen.«
    Rai ballte zornig seine Fäuste. »Meine Lippen sind schon ganz zerbissen von dem ewigen Blutsammeln«, fuhr er Meatril an.
    »Dann nimm die Nase«, empfahl dieser ungerührt.

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