Götterschild
Frieden auf Andobras gesichert und – Rai begann, sich zu langweilen. Er schien einfach nicht für ideale Bedingungen geschaffen zu sein. Rai war und blieb ein Überlebenskünstler, der erst unter widrigen Umständen seine Fähigkeiten voll entfalten konnte. Das wurde ihm erst jetzt gänzlich bewusst, in eben jenem Moment, als er seine Freunde und Vertrauten am Hafen der Insel Andobras langsam in den milchigen Wolkenschleiern verschwinden sah.
Der Kapitän der Citara, ein zwielichtig aussehender Geselle mit einem breiten Schnauzbart, der so gar nicht auf dieses erhabene Citschiff passen wollte, bellte seine Befehle und von gleichmäßiger Ruderkraft getrieben glitt die Citara aus dem Hafenbecken ins offene Meer hinaus. Dort empfing sie unvermutet rauer Seegang, sodass Rai und die anderen Passagiere sich schnellstens einen festen Halt suchen mussten. Schon der Beginn ihrer Reise verhieß äußerst ungemütlich zu werden – aber Rai hatte es ja so gewollt.
Genau zweiundzwanzig Tage musste sich die Citara durch peitschende Winde und meterhohe Wellen nach Süden kämpfen, bis endlich die Küste Etecrars in Sichtweite kam. Kaum hatte der Ausguck die ausgedehnten Sumpfwälder an der Küste des Quasul-Hor gemeldet, ließ auch der Sturm merklich nach und das erste Mal seit Tagen konnte man sich wieder ohne Gefahr an Deck aufhalten. Rai, Meatril, Targ, Belena und Selira waren durch die Strapazen der letzten Tage aufs Deutlichste gezeichnet. Sie hatten alle schwer unter der Seekrankheit zu leiden gehabt. Besonders schlecht war es Targ ergangen, der bis auf ganz wenige Ausnahmen seit ihrer Abreise keine feste Nahrung mehr hatte zu sich nehmen können. Abgemagert und bleich, zudem äußerst wortkarg und übellaunig, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Es gab kaum noch eine Spur von dem immer zu Scherzen aufgelegten, ein wenig aufbrausenden Schwertfechter, den Rai vor anderthalb Jahren im Hafen von Andobras das erste Mal getroffen hatte. Natürlich war die Seereise nicht der einzige Grund für den erbarmungswürdigen Zustand des Ecorimkämpfers, denn auch seine Trauer hatte ihn deutlich zerrüttet.
Schließlich hatten sich alle Passagiere am Bug des Schiffes eingefunden und warfen einen ersten Blick auf die rasch näher kommende Küste von Etecrar, die im Grunde nur aus einer dunklen Wand aus Bäumen bestand, welche eine Barriere zum Ozean bildete. Auf hochgestelzten, knorrigen Wurzeln erstreckte sich dieser dichte Uferforst teilweise bis weit ins Wasser hinein, sodass an den meisten Stellen nicht ersichtlich war, wo nun eigentlich das Meer endete und das Festland begann.
»Ich dachte, Etecrar sei eine einzige große Wüste«, bemerkte Rai an Selira gewandt, die unmittelbar neben ihm stand. »Stattdessen empfängt uns hier ein Wasserwald.«
Seliras dunkle Augen blieben unverwandt auf die Küste gerichtet. Sie wirkte äußerst angespannt. »Nur ein dünner Streifen am Meer ist grün«, erklärte sie abwesend, »weiter drinnen gibt es hauptsächlich Sand und Steine.«
»Was sind das für Bäume, die da im Wasser wurzeln?«, schob Rai eine weitere neugierige Frage nach.
Selira schien zu überlegen. »Die heißen … ich glaube …« Plötzlich fuhr sie aufgebracht zu Rai herum und fauchte: »Was fragst du mich das? Ich war noch ein kleines Kind, als ich dieses Land verlassen habe!«
»Wir nenn’ se Schiffersgrab.« Die Antwort kam vom Kapitän, der unbemerkt hinter sie getreten war. Das Citheonisch des Seefahrers hörte sich an, als würde er mit vollem Mund sprechen. Obwohl er aus Skardoskoin stammte, beherrschte er die Sprache des Südens perfekt und selten fehlte ihm einmal ein Wort. Allerdings schien er keine große Lust zu verspüren, die Lippen beim Reden weiter zu öffnen als unbedingt nötig.
»Schiffersgrab?«, wiederholte Rai beunruhigt. »Das hört sich aber nicht so an, als sollten wir da näher ranfahren.«
Der Kapitän lachte so laut, dass Rai und Selira zusammenfuhren. »Da has’ du ganz rech’, Jung, die geb’n de’ Citara nimme’ her, wenn ses mal ham. War’ doch schad’, um de’ schwimmende Goldpott.« Er richtete seine unergründlich graublauen Augen auf Selira. »Abe’s kleine Frauche’ hier wollt’ doch ins Land de’ verfluchten Säbelschwinge’, ode’ etwa nich’?«
Selira sah ziemlich überrumpelt drein, sodass Rai die Gelegenheit ergriff, ihr zu Hilfe zu kommen. »Ihr wollt sie aber doch sicher nicht hier in diesem Küstendickicht absetzen, oder? Da könntet ihr sie ja
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