Götterschild
Alleingang den Königspalast von Tilet.«
»So schlimm?«, erkundigte sich Kawrin mitfühlend.
Rai nickte. »Noch schlimmer. Wir zwei sind wie Hund und Katze, das geht einfach nicht zusammen. Diese Überfahrt wird sicher die reinste Qual.«
»Wo will sie denn eigentlich hin?«, fragte Kawrin.
»Ja, das ist auch so etwas.« Rai versicherte sich durch einen Seitenblick, dass die Xelitin sie nicht belauschte. »Sie will in ihr Heimatdorf irgendwo in Etecrar. Meatril, Targ und Belena haben nichts dagegen, sie auf unserem Weg nach Seewaith dort von Bord gehen zu lassen, aber ich glaube nicht, dass sie genau weiß, wo sie hinmuss. Etecrar ist groß, zumindest wurde mir das so gesagt, und wenn wir sie einfach an der Küste absetzen, dann irrt sie auf der Suche nach ihrem Dorf alleine dort herum. Das halte ich für ziemlich gefährlich.«
»Du musst sie eben beschützen«, empfahl Kawrin mit einem Augenzwinkern. »Das wäre doch auch eine wunderbare Gelegenheit, dich ihrer Dankbarkeit zu versichern.«
Rai wollte zunächst widersprechen, dachte aber dann über den Vorschlag nach. »Du bist gar nicht so einfältig, wie du aussiehst«, erwiderte er lächelnd.
»Und du bist und bleibst ein unverschämter Gossenlümmel«, entgegnete Kawrin bis über beide Ohren grinsend. »Dabei wissen doch alle, dass ich der Hübschere und Klügere von uns beiden bin.« Er lachte. »Aber willst du jetzt nicht endlich mal an Bord gehen? Du hast meine Geduld lange genug strapaziert.«
Die beiden Freunde umarmten sich kurz, aber herzlich, dann machte sich Rai daran, sich durch die Menschenmenge einen Weg auf das Schiff zu bahnen. Die am Kai stehenden Andobrasier ließen ihn nämlich nicht einfach vorbeigehen, ohne ihm die Hand zu schütteln oder wenigstens auf die Schulter zu klopfen. Menschen, deren Gesicht er nie vorher bewusst wahrgenommen hatte, wünschten ihm eine gute Reise und verliehen ihrer Hoffnung Ausdruck, ihn bald wieder auf Andobras willkommen zu heißen. Rai war schließlich der Letzte, der das Deck des stolzen Seglers erreichte, und ihm war nach den vielen Abschiedsworten nun regelrecht melancholisch zumute.
Um sich etwas abzulenken, sah sich Rai auf dem stolzen Segler um, der sie nach Seewaith bringen sollte. Citara – so lautete der Name dieses Zweimasters aus dem Besitz des Cittempels. An aufwendiger Verarbeitung und edlen Materialien war auf diesem Schiff wahrlich nicht gespart worden. Glänzend lackierte Edelhölzer, Gold- und Silberverzierungen an jeder Ecke und schneeweiße Segel, die mit dem Sonnensymbol bestickt waren, vermittelten den Eindruck, als befände man sich auf einem schwimmenden Tempel.
Rai stützte sich auf die Reling und beobachtete, wie die Matrosen die Leinen losmachten und das Schiff vom Kai abstießen. Erbukas und Kawrin winkten zum Abschied, ebenso wie einige andere Andobrasier. Barat hingegen sah nur reglos zu, wie sich die Citara immer weiter von ihrem Anlegeplatz entfernte. Rai fragte sich unvermittelt, ob er seinen Freund wohl je wieder sehen würde. Es konnte so vieles passieren auf ihrem Weg nach Seewaith, nicht zuletzt, weil sie die Gewässer des Inselreichs Jovena passieren mussten, wo laut Shyralis Informationen jetzt Krieg herrschte. Das wusste natürlich auch Barat. Vielleicht fragte er sich gerade dasselbe wie Rai und wirkte deshalb so niedergeschlagen. In Anbetracht der lauernden Gefahren auf ihrem Weg kam es Rai in diesem Moment fast ein wenig töricht vor, dass er sich auf diese lange Seereise eingelassen hatte, wo es doch auf Andobras eigentlich mehr als genug zu tun gab und man die Insel mittlerweile durchaus als einen friedlichen, sicheren Ort bezeichnen konnte. Aber der einstige Tileter Straßendieb musste nicht lange überlegen, um den wahren Grund für seine Abreise zu finden. Natürlich spielte das Versprechen an Belena ebenfalls eine Rolle, aber vermutlich hätte er die Zusicherung, die junge Frau persönlich nach Seewaith zu begleiten, gar nicht erst gegeben, wenn er sich nicht in seinem tiefsten Inneren nach etwas gesehnt hätte, das es auf Andobras seit ihrem Sieg über Megas’ Flotte nicht mehr gab: neue Abenteuer.
Rais ganzes Leben war bislang eine endlose Aneinanderreihung von kleinen und großen Kämpfen gewesen. Das hatte auf den Straßen Tilets mit dem täglichen Ringen um etwas Essbares begonnen und zuletzt sogar zu ausgewachsenen Schlachten gegen Gardisteneinheiten und Schwarzlanzer geführt. Doch inzwischen hatten sie den unter so großen Opfern erkämpften
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