Götterschild
Befürchtung, du würdest mich als ein bisschen zurückgeblieben betrachten, weil ich in den Feuerhöhlen so wenig mitbekommen habe von der Welt da draußen. Ich wollte«, sie suchte nach Worten, »hm, nun ja, ich wollte dir beweisen, dass das nicht stimmt. Vermutlich war ich daher manchmal etwas empfindlich.«
»Und ich dachte immer, du hältst mich für eingebildet«, bekannte Rai verwundert.
»Nein, nicht eingebildet«, gab Selira kopfschüttelnd zurück, »ein wenig ungehobelt vielleicht, aber nicht eingebildet.« Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln, das ihm bis tief in die Magengrube fuhr.
»Aber letzten Endes muss ich ja zugeben«, sprach sie weiter, »dass es vieles gibt, was ich noch zu lernen habe. Allein schon, wie leicht es dir fällt, mit völlig Unbekannten ins Gespräch zu kommen und dich mit ihnen anzufreunden. Das zeigt mir, dass die Zeit im Bergwerk doch einige Spuren bei mir hinterlassen hat. Dort hatte ich immer nur mit einer sehr begrenzten Anzahl von Leuten zu tun und es war nicht notwendig, sich auf Fremde einzustellen. Wenn ich mich jetzt mit so jemandem wie Oibrin oder auch Chariuk einfach ganz normal unterhalten will, fällt mir nichts ein, was ich sagen kann. Deshalb bin ich immer so schweigsam in ihrer Gegenwart.«
Rai rieb sich nachdenklich das Kinn. »Du hast nicht einmal widersprochen, als dich Oibrin als meine Freundin bezeichnet hat«, bemerkte er beiläufig. In Wahrheit begann sein Herz aber vor lauter Aufregung wild zu klopfen, denn er wollte mit seiner Bemerkung herausfinden, wie Selira wirklich zu ihm stand.
»Na, wir sind doch auch Freunde, oder etwa nicht?« Wieder quälte sie ihn mit diesem unwiderstehlichen Lächeln, das so gar nicht zu ihrer eher unbestimmten Antwort passte.
»Ja, natürlich.« Rai bemühte sich, nicht enttäuscht zu klingen. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht verstanden, worauf er hinauswollte. Oder aber sie gab ihm auf diese Weise behutsam zu verstehen, dass er nichts weiter als Freundschaft von ihr erwarten durfte. Bei den Göttern, diese Ungewissheit würde ihn noch um den Verstand bringen! Es war ja schön und gut, dass sie jetzt so viel besser miteinander auskamen als zuvor, aber Rai wollte nicht nur irgendein Freund von Selira sein. Das erschien ihm in etwa genauso erstrebenswert, wie bei einem Zweikampf den zweiten Platz zu belegen.
Inzwischen näherten sie sich dem Hafen und die Aufmerksamkeit der beiden richtete sich auf die dort vertäuten Schiffe. Rai war sich nicht mehr ganz sicher, wo die Citara genau angelegt hatte. Selira schien es ähnlich zu gehen, und als sie so ein wenig ratlos vor dem Wald aus Masten, Tauen und Segelrollen standen, der im Hafenbecken von Kersilon in den Himmel ragte, fiel ihnen das große Gedränge auf, das an einem der Landeplätze herrschte. Anscheinend wurden hier ganze Wagenladungen von verschiedensten Waren angeliefert und am Kai entladen. Rai wollte seinen Blick schon weiterschweifen lassen, da er es für ausgeschlossen hielt, dass all diese Lieferungen für die Citara gedacht waren, da richtete eine leichte Brise die Fahne an der Mastspitze des Seglers auf, vor dem sich die Lieferungen türmten. Das unverwechselbare vierstrahlige Sonnensymbol leuchtete ihm golden entgegen und gleich darauf entdeckte Rai auch eine bekannte Gestalt zwischen den Kisten, Töpfen und Paketen am Kai.
»Targ!«, rief Rai begeistert und lief los. »Ich glaubs nicht, ihr habt tatsächlich auf uns gewartet!« Ohne zu überlegen, fiel er dem überraschten Ecorimkämpfer um den Hals.
»Bei Kaloquerons Donnerschlag«, entgegnete dieser freudig überrascht, als Rai ihn wieder losgelassen hatte, »wir haben schon die ganze Stadt nach euch abgesucht. Wo wart ihr denn die ganze Zeit?«
»Oh, das ist eine lange Geschichte«, winkte Rai ab, »die erzähl ich euch, wenn wir wieder unterwegs nach Seewaith sind.« Er sah sich um. »Aber es scheint, dass ihr in der Zwischenzeit halb Kersilon aufgekauft habt. Was ist das alles?«
Targ verzog das Gesicht. »Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich mit dem ganzen Plunder anfangen soll. Dass das jetzt alles mir gehört, war sozusagen ein Unfall.«
Rai stellte fest, dass Targ der Aufenthalt an Land nach der langen, stürmischen Überfahrt von Andobras offenbar gut bekommen war. Er wirkte viel erholter als bei ihrer Ankunft in Kersilon und strahlte auch wieder mehr Zuversicht aus als zuvor.
»Ein Unfall?« Rai hob belustigt eine Augenbraue. »Das ist eine eigenartige Umschreibung für solch einen
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