Götterschild
Zelten ankamen, blieben sie überrascht stehen. Eine Menschentraube hatte sich im Zentrum des Lagers gebildet, aber der Grund dafür ließ sich von ihrem Standort aus nicht erkennen. Neugierig bahnten sich die beiden Kinder einen Weg zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch, bis sie endlich erkennen konnten, weshalb die Stammesmitglieder hier zusammengeströmt waren. Sie umringten einen fahrenden Händler, der mit seinem Karren und einem stämmigen Zugpferd offenbar gerade angekommen war. Eigentlich freute sich Thalia jedes Mal, wenn ein solcher Besucher zu ihnen kam, denn normalerweise brachten diese Leute nicht nur Waren, sondern vor allem auch Geschichten aus ihrer weit entfernten Heimat mit. Die meisten kamen aus Fendland oder Nordantheon, zwei große Länder, die, wie Thalia bereits wusste, an die Istaebene angrenzten, wo sie jetzt lebte. Tarana hatte ihr zwar erzählt, dass sie selbst ebenfalls aus einer Stadt in Fendland stammte, aber so sehr sich Thalia auch anstrengte, sie hatte keinerlei Erinnerung mehr an diese Zeit. Umso begieriger war sie, etwas über die neusten Ereignisse dort zu erfahren, obwohl sie natürlich nicht immer alles verstand, was so geredet wurde.
Doch bei diesem Händler war es anders. Vom ersten Moment an konnte Thalia ihn nicht leiden. Es handelte sich um einen großen, stämmigen Mann mit langen verfilzten Haaren und einem dunklen Fellmantel. Er lächelte immerzu, auch wenn er sprach, so als wären seinen Mundwinkel in dieser Position erstarrt. Seine Augen wanderten unstet umher, er konnte niemanden lange ansehen. Dafür ruderte er beim Erzählen wild mit den Armen, sodass es aussah, als wolle er den Umstehenden Ohrfeigen verpassen. Aber der eigentliche Grund, warum Thalia diesen Mann ablehnte, waren seine Gedanken. Sie war es gewohnt, dass die Gedanken, die sie von solchen Leuten empfing, sich in erster Linie um Waren drehten – was man dafür eintauschen und wie viel man dabei verdienen konnten. Aber die Gedankenstücke, die dieser Kerl in seinem Kopf hatte, waren finster und unzugänglich wie kleine Fetzen Nacht, die durch die Luft schwebten. Er wollte ganz bewusst etwas verbergen, etwas, das sicher nichts mit seinen Waren zu tun hatte, und das machte Thalia Angst.
In diesem Moment sah sie Tarana, die auf den Händler zutrat. »Ihr sagt, Ihr kommt aus Fendland?«, hörte sie, wie ihre Mutter den Mann in der Südsprache anredete, die Thalia ebenso gut beherrschte wie die Sprache der Nomaden. Tarana hatte großen Wert draufgelegt, dass sie beide Sprachen lernte. Sie betonte Thalia gegenüber immer, dass es nichts Wichtigeres gab, als sich mit anderen Menschen verständigen zu können. Thalia hatte rasch herausgefunden, dass selbst ihre speziellen Fähigkeiten das Erlernen der Südsprache keinesfalls überflüssig machten, da das Unterhalten in Gedanken nur mit Arlion wirklich funktionierte. Um mit anderen Menschen zu reden, benötigte auch sie gesprochene Worte.
»Seid Ihr zufällig auch in Seewaith vorbeigekommen?«, fragte Tarana gerade.
»Oh ja«, antwortete der Kaufmann und schaffte es, dabei seine Mundwinkel noch weiter auseinander zuziehen. Jetzt sah er aus, als hätte er einen Stock quer in den Mund gesteckt, fand Thalia.
»Unglücklicherweise«, sprach der Mann weiter, »hatte das schöne Seewaith ja etwas zu leiden unter den großen Verlusten bei der Schlacht von Königswacht. Aber das wisst Ihr ja besser als ich, schließlich waren die Istanoit ebenfalls beteiligt, wie man hört.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Tarana. »Auch unser Volk hatte seinen Preis zu zahlen. Aber wie sieht es jetzt in Seewaith aus? Wir haben gehört, dass die Citpriesterschaft sehr an Einfluss gewonnen hat und die Verehrung der anderen Götter, wie Bajula, verboten wurde. Außerdem sollen Ratsmitglieder verhaftet worden sein und es war von Zwangsrekrutierungen die Rede.«
»Nun ja«, antwortete der Händler, während sein Blick zum Himmel wanderte, »es haben sich schon ein paar Dinge verändert. Offenbar rüstet sich die Kirche für eine Schlacht von noch nie da gewesenen Ausmaßen.«
»Aber gegen wen und warum?«, erkundigte sich Tarana, wobei die vielen sorgenvollen Gedanken, die in ihrer Mutter zu spüren waren, Thalia beinahe Tränen in die Augen trieben. Sie hasste es, wenn Tarana so bekümmert war.
»Ja, habt ihr denn noch keine Kunde von der drohenden Gefahr im Norden erhalten?« Der Mann hob beschwörend seine Hände, von denen jede so groß wie Thalias Kopf war. Sie wunderte
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