Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
drehte sich genau in dem Moment wieder herum, in dem Andrej auf die Füße taumelte und Gunjir hochriss.
Seine Reaktion war unvorstellbar schnell. Selbst Andrej ahnte die Bewegung mehr, als er sie sah, und wäre es nicht Gunjir gewesen, das er führte, sondern ein anderes Schwert, hätte er keine Chance gehabt. Der Säbel des Vampyrs schien einfach zu verschwinden und ein Stück höher und genau in Gunjirs Bahn wieder aufzutauchen, um seinen Hieb zu parieren.
Gunjir schnitt durch die Klinge aus schwarz gewelltem Damaszenerstahl wie durch dünnes Papier, schälte einen sauberen Streifen aus seiner Uniformjacke (und der Schulter darunter) und ließ ihm sogar noch Zeit, um zumindest zu erahnen, was mit ihm geschah. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von maßlosem Erstaunen, als sein abgetrennter Kopf davonflog und am anderen Ende der Kammer aufschlug.
Aber das hörte Andrej schon nicht mehr.
Als er erwachte, schlug ihn jemand mit der flachen Hand in sein Gesicht, doch es war nicht Abu Dun; ebenso wenig wie das Gesicht, das ganz langsam darüber erschien, das des Nubiers war. Allerdings schien der Besitzer der Hand dem gleichen Irrtum zu erliegen wie Abu Dun: Nämlich dem, dass man einen Bewusstlosen nur ausdauernd und fest genug schlagen musste, um ihn wach zu bekommen.
»Ich glaube, das reicht jetzt, Jacques«, sagte eine Stimme, die ihm vage bekannt vorkam, ohne dass er ihrem Klang sofort ein Gesicht zuordnen konnte. »Er ist jetzt wach. Wenn du so weitermachst, ist er es gleich nicht mehr.«
Andrej hatte das Gefühl, dass er jetzt eigentlich lächeln sollte, aber zugleich erschien ihm diese Anstrengung viel zu groß. Ein böser Blick in Jacques vernarbtes Gesicht war weit weniger mühsam. Der Matrose hatte zwar schon zu einem weiteren Schlag ausgeholt, las aber dann wohl in Andrejs Augen und entschied sich dafür, nicht den Verlust seiner Hand zu riskieren. Er stand sogar auf und entfernte sich, aber es gelang ihm nicht ganz, seine Enttäuschung zu verhehlen.
Andrej wagte es, sich auf die Ellbogen hochzustemmen, und versuchte, die Beine zu Boden zu schwingen, und wenn der nun doch noch einmal all seinen Mut zusammennehmende Jacques ihn nicht im letzten Moment gestützt hätte, wäre er, wie er jetzt erkannte, unsanft aus der schwankenden Hängematte, in der er gelegen hatte, gefallen.
»Nicht so hastig, Andrej«, fuhr die Stimme fort. Es war weniger ihr Klang, der Andrej an den dazugehörigen Namen erinnerte, sondern weit mehr der spöttische Unterton. Gordon. »Wir alle wissen, was für ein tapferer Krieger Ihr seid, Andrej, aber Ihr solltet es trotz allem nicht übertreiben.«
Dem stimmte Andrej im Stillen zu, aber er war es allein seinem Stolz schuldig, all seine Kraft zusammenzunehmen, den Kopf zu drehen und Gordon einen ebensolchen drohenden Blick zuzuwerfen wie zuvor Jacques. Doch das schien wenig Eindruck zu machen. Gordon grinste so breit, als wolle er seine eigenen Ohrläppchen verschlucken.
»Was zum Teufel …?«, murmelte er.
»Versündigt Euch nicht, Andrej«, antwortete Gordon. »Auch wenn ich mich allmählich ernsthaft zu fragen beginne, ob Ihr mit diesem Señor nicht mehr gemein habt, als ich bisher wusste … zumindest versteht Ihr es, wie er zu kämpfen.«
»Aha«, nuschelte Andrej. Er verstand kein Wort. »Ihr habt keine Ahnung, wen Ihr da einen Kopf kürzer gemacht habt, habe ich recht?«, fragte Gordon. Andrej glotzte ihn nur an, und Gordon lachte leise, aber doch sehr herzhaft und schüttelte so heftig den Kopf, dass seine schwarzen Locken flogen. »Einen Kopf kürzer«, gluckste er. »Ja, das trifft es ziemlich gut, nicht wahr?«
Andrej fand das nicht lustig. Er empfand, wenn er ehrlich war, gar nichts. Er begriff nicht einmal wirklich, wovon Gordon sprach. In seinem Kopf herrschte ein einziges, wüstes Durcheinander. Und ein spitzer Stachel aus Schmerz, der sich immer tiefer in sein Herz bohrte, ohne dass er die Ursache dieses Schmerzes begriff. Er erinnerte sich an nichts.
»Ihr wisst es wirklich nicht?« Gordon klang ehrlich überrascht.
»Ich fürchte, ich weiß nicht einmal genau, wovon Ihr redet, Capitan«, murmelte Andrej. Immerhin wusste er noch, dass Gordon Kapitän war.
»Julio Desantes«, antwortete Gordon in einem Ton, als hätte er ihm gerade die geheime Rezeptur des Steins der Weisen anvertraut. Andrej sah ihn verständnislos an. »Lieutenant Julio Desantes«, erklärte Gordon. »Nur ein einfacher Lieutenant, ein Mann ohne besonderen Rang oder Auszeichnungen … oh ja, und fast

Weitere Kostenlose Bücher