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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Andrej?«
»Gar nichts!«, antwortete Andrej ärgerlich. »Mir fehlt nichts.« Er stand auf. »Du sagst, du weißt, wo wir mit unserer Suche anfangen können?«

N
    ach der stickigen Luft und der Dunkelheit im Schankraum hätte er die hell strahlende Vormittagsonne als wohltuend empfinden müssen, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Das Licht stach unangenehm grell in Andrejs Augen, und obwohl die Sonne noch Stunden vom Zenit entfernt war, schien die Luft in den schmalen Gassen zwischen den Häusern zu heißem Sirup geronnen zu sein, der sie kaum atmen ließ und jede Bewegung schwer machte. Außerdem stank die Stadt.
Dazu kam, dass Abu Dun keineswegs übertrieben hatte: Cádiz platzte buchstäblich aus den Nähten vor Menschen. Nicht nur alle Gasthäuser und privat vermieteten Unterkünfte waren hoffnungslos überfüllt, auch auf den Straßen drängten sich die Menschen so dicht, dass es kaum ein Durchkommen zu geben schien. Nicht einmal Abu Duns Ehrfurcht gebietende Statur, die die Menschen sonst instinktiv einen respektvollen Abstand einhalten ließ, brachte ihnen heute einen Vorteil. Niemand konnte ihnen ausweichen, wenn ihm einfach der dazu notwendige Platz fehlte. Sie waren erst seit einigen Augenblicken unterwegs, aber Andrej war für sich schon längst zu dem Schluss gekommen, dass er besser auf Abu Dun gehört hätte. Nicht nur das grelle Licht, die Hitze und die Menschen mit ihrem Lärm und ihren unangenehmen Gerüchen und Gefühlen setzten ihm zu. Immer noch weigerte er sich zu glauben, er könnte Fieber haben (das war unmöglich, basta!), aber er fühlte sich schlecht. Das Essen hatte ihn gesättigt, schien seinen Hunger gleichzeitig aber auch noch weiter angestachelt zu haben, und der schale Geschmack des Bieres hatte sich mit dem nicht minder schlechten Geschmack auf seiner Zunge verbunden, mit dem er aufgewacht war, sodass er das Gefühl einfach nicht loswurde, etwas Verdorbenes gegessen zu haben. Außerdem bewegten sich seine Gedanken so träge, dass Abu Dun ihn gerade zwei Mal hatte ansprechen müssen, bevor er es nur gemerkt hatte.
Und dazu kamen natürlich die Blicke, mit denen sie gemustert wurden. Niemand wagte es, sie offen anzustarren. Ganz im Gegenteil versuchte jedermann, ihnen Platz zu machen oder es doch zumindest zu vermeiden, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – und sei es nur durch einen allzu neugierigen Blick. Natürlich war Andrej klar, was für einen Anblick sie bieten mussten. Abu Dun, ein ganz in Schwarz gekleideter Riese, der es gut zu verbergen wusste, was für ein sanftmütiger und verständnisvoller Mensch er sein konnte (wenn er wollte), und er selbst, ebenfalls hochgewachsen und von kräftiger Statur, dem das schwarze Band, halb Piratentuch, halb Augenklappe, das er sich um den Schädel gewickelt hatte, etwas sehr viel mehr Erschreckendes als Beeindruckendes gab. Vermutlich, dachte er spöttisch, waren Abu Duns Bedenken überflüssig – sie würden keine Mühe haben, Loki zu finden. Falls der nordische Halbgott nicht taub war, dann würde er bald erfahren, dass sie in der Stadt waren. Abu Dun, dem es offensichtlich zu viel wurde, drängte sich unsanft an ihm vorbei und setzte seine gewaltige Körpermasse nun rücksichtslos ein, um für sich selbst und Andrej einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Es gelang ihm auch, wenn auch nicht mit dem erwünschten Erfolg und um den Preis, dass ihnen nun ein ganzer Chor von Flüchen, Verwünschungen und Drohungen folgte. Immerhin kamen sie auf diese Weise ein wenig besser voran, und schließlich bog der Nubier – wie Andrej annahm – wahllos nach rechts in eine schmale Gasse ab, in der es zumindest wieder genug Platz zum Atmen gab. Auch die Luft war etwas besser. Es war noch immer stickig und heiß, zugleich aber spürte er einen sachten Windhauch auf dem Gesicht und roch den charakteristischen Geruch von Salzwasser, unter den sich nach ein paar Schritten noch der von nassem Holz und feuchtem Tau und Segelzeug mischte. Sein feines Gehör vernahm das Klatschen von Wellen, die sich an Kaimauern und Schiffsrümpfen brachen, und ein vielstimmiges Gemurmel, anders als der dumpfe Straßenlärm, der sie bisher begleitet hatte. Jetzt wusste er, dass sie sich dem Hafen näherten, und auch wenn seine Gedanken sich noch immer nicht so schnell und präzise bewegten wie gewohnt, so war er dennoch nicht benommen genug, um sich nicht ein wenig über seine eigene Trägheit zu ärgern. Ein Hafen war überall auf der Welt der geeignete

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