Göttin der Rosen
von diesen Dingen?
Plötzlich hörte er, wie die Menschenmenge sich dem Tempel näherte, und zog die Schatten um sich herum zusammen. Die Frauen des Reiches konnten ihn nicht sehen, aber sie spürten seine Gegenwart, wandten ihre Augen von der Finsternis ab, in der er sich verbarg, und machten einen großen Bogen um die Eiche. Als sie das Ende des Rituals bejubelten und die Empousa mit Tanz und Gesang willkommen hießen, fühlte sich der Wächter wie eine Insel des Kummers in einem Meer der Freude.
Aber trotz allem konnte er den Blick nicht von ihr abwenden. Sie schloss den Kreis, und dabei liebkoste das sich langsam verfärbende Licht von Hekates Flamme ihre nackte Haut. Während sie von Dienerin zu Dienerin ging und eine nach der anderen willkommen hieß, konnte er nur daran denken, wie unerträglich verlockend ihr Körper war. Sein Kiefer verkrampfte sich, und seine Klauen rissen tiefe Kerben in die Borke der alten Eiche.
Bei der Bewegung schoss ihm unwillkürlich ein scharfer Schmerz in Arme und Brust – er begrüßte ihn, denn der Schmerz erinnerte ihn an seine Verbannung und an den Grund dafür. Wegen seiner Begierde, seiner Schwäche , war er jahrhundertelang versteinert gewesen. Was für eine Ironie des Schicksals. Seine körperliche Stärke übertraf die jedes sterblichen Mannes, und doch war es Schwäche gewesen, die dazu geführt hatte, dass er seine Pflicht und schließlich sich selbst verraten hatte.
Nie wieder. Das werde ich nicht noch einmal zulassen.
Und dann klärte sich der Nebel in seinem Kopf plötzlich, und ein neuer Gedanke erschien. Vielleicht war all das – die Träume von ihr, sein Erwachen und jetzt die Rückkehr seiner schrecklichen Begierde – eine Art Prüfung.
Ja. Er richtete sich auf und zog seine dolchartigen Krallen zurück. Das leuchtete ein . Hekate bot ihm die Gelegenheit, sich ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Sie führte ihn in Versuchung, damit er beweisen konnte, dass er ihr nicht erneut verfallen würde.
Nie wieder würde er seine Göttin und ihr Reich verraten.
Er würde seinen Pflichten als auserwählter Wächter des Reichs der Rose nachgehen, und wenn die Zeit für das Beltane-Frühlingsritual gekommen war, würde er seinen Auftrag erfüllen und diese neue Empousa ihrem Schicksal zuführen.
Mit einer mächtigen Willensanstrengung unterdrückte der Wächter die Sehnsucht in seinem Inneren. Seine Schwäche würde nicht noch einmal die Oberhand gewinnen. Über unzählige Generationen hatte er Hekates magisches Reich beschützt. Er war stets wachsam gewesen. Er hatte seiner Göttin mit unermüdlicher Hingabe gedient. Und er war immer allein gewesen, selbst in den kurzen Momenten, in denen er sich vorgestellt hatte, dass seine Einsamkeit ein Ende nehmen könnte.
Nur zu genau erinnerte er sich an den unsäglichen Schmerz in seinem Inneren, als er hatte erkennen müssen, wie sehr er sich geirrt hatte. Der Kummer, den ihre Zurückweisung ihm bereitet hatte, war schlimmer gewesen als die Einsamkeit, die darauf folgte.
Doch was die letzte Empousa zu ihm gesagt hatte, war die Wahrheit. Er war eine Bestie. Vielleicht war es möglich, dass eine Frau ihn mochte und so freundlich behandelte wie eine geliebte Katze oder einen besonders loyalen Hund, aber keine Frau würde sich jemals in ein Monster wie ihn verlieben. Dass die Göttin ihm das Herz und die Seele eines Mannes geschenkt hatte, spielte überhaupt keine Rolle, denn Herz und Seele steckten im Körper eines wilden Tieres. Es war sein Schicksal, allein zu bleiben, und das Schicksal ließ sich nicht ändern.
Mit einem letzten Blick in Richtung der neuen Empousa wandte er sich ab. Pflicht – nur sie allein bestimmte sein Leben.
Aber ein Teil meiner Pflicht ist es, die Empousa zu beschützen … dafür zu sorgen, dass es ihr an nichts fehlt , flüsterte der Mann in seinem Inneren. Werden die Dienerinnen daran denken, dass sie nach dem Ritual essen und trinken muss, um sich zu erden? Natürlich nicht. Und sie … Er hielt inne und sah über die Schulter zu der Gruppe von fröhlich lachenden Frauen hinüber, die die Empousa begleiteten. Sie war so unerfahren, dass die Dienerinnen ihr die Beschwörung des heiligen Kreises beibringen mussten. Sie weiß ganz bestimmt nicht, dass sie sich nach solch einem Ritual dringend stärken muss. Erneut zwang er sich, den Blick von der Empousa abzuwenden. Mit einem hastig hervorgestoßenen Befehl zog er die Schatten noch fester um sich zusammen und entfernte sich von den
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