Göttin der Rosen
erneut, und diesmal konnte Mikki die Traurigkeit in seinen Augen deutlich erkennen, bevor er sie hinter einer undurchdringlichen Maske verbarg. Er war so voller Widersprüche. In dem einen Moment jagte er ihr eine Höllenangst ein, und in dem nächsten erregte er ihr Mitleid. Auch wenn ihr ein bisschen schummerig war, fühlte sie sich schon um einiges besser – vielleicht noch nicht unbedingt »geerdet«, aber auf jeden Fall entspannt genug, um die nächste Frage, die ihr durch den Kopf schoss, einfach laut auszusprechen.
»Bist du ein Produkt meiner Phantasie? Passiert das alles nur in meinem Kopf?«
»Nein. Ihr und ich, wir sind real. Genau wie auch das Reich der Rose und die Göttin, der wir beide dienen.«
»Also ist das alles kein Traum?«
»Nein, Mikado.« Er sprach ihren Namen ganz deutlich aus. »Das hier ist kein Traum.«
In diesem Moment begegneten sich ihre Blicke, und in seinen dunklen, ausdrucksvollen Augen sah sie die Erinnerung an ihre gemeinsamen Träume. »Ihr seid sehr wach, und ich bin es auch – endlich.«
»Manchmal haben sich meine Träume realer angefühlt als die Welt um mich herum.« Die Worte kamen ihr einfach so über die Lippen.
Langsam, ohne den Blick von ihr abzuwenden, trat er noch näher an sie heran und hob die Hand, so dass seine Fingerspitzen ganz sachte über ihre Wange strichen. »Ihr habt den Bann gebrochen, der mich an die Statue gefesselt hat. Dafür bin ich Euch ewigen Dank schuldig.«
Die Hitze seiner Berührung ließ sie erschauern. Schnell ließ er die Hand wieder sinken und wich einen Schritt zurück.
»Aber warum ich?« Ihre Stimme klang rau, und in ihrem Inneren kämpften Angst und Faszination. »Wie hätte ich einen Bann brechen können, von dem ich nichts wusste?«
»Durch Eure Adern fließt das Blut von Hekates Hohepriesterin. Niemand anderes hätte den Bann brechen und mich erwecken können.«
»Ich habe dich erweckt …«, wiederholte Mikki. »Und ich bin hier, weil ich dich aus diesem Bann befreien musste.«
»Nein, Empousa«, widersprach der Wächter entschieden. Seine Worte waren wie Stein, und die ganze Kraft, die er bisher in Schach gehalten hatte, hallte in ihnen wider. »Ihr seid nicht meinetwegen hier. Ihr seid wegen der Rosen hier.«
Unwillkürlich zuckte sie vor der unbändigen Macht in seiner Stimme zurück und bekam plötzlich wieder Angst.
Der Wächter seufzte resigniert. Als er weitersprach, hatte er seine Stimme wieder unter Kontrolle.
»Ich werde Euch in Ruhe essen lassen. Wenn Ihr noch irgendetwas braucht, dann ruft einfach, die Dienerinnen werden sich darum kümmern. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.« Er verbeugte sich erstaunlich elegant vor ihr, dann drehte er sich um und verschwand in den Schatten, aus denen er gekommen war.
Als er weg war, löste Mikki ihre ineinander verkrampften Finger und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.
Hol tief Luft. Beruhige dich. Hol tief Luft. Beruhige dich. Sie wiederholte die Worte wie ein Mantra, bis sie ganz allmählich in ihren Körper einsickerten. Statt erneut nach ihrem Weinkelch zu greifen, fing sie an zu essen. Durch die alltägliche Handlung fühlte sie sich schon bald besser, also aß sie und genoss das Gefühl, wie die einfache Stärkung ihres Körpers auch ihren Geist regenerierte. Sie trank keinen einzigen Schluck Wein und grübelte auch nicht länger über das unmögliche Gespräch, das sie gerade geführt hatte, bis der Hunger gestillt war und der Nebel in ihrem Kopf sich gelichtet hatte.
Erst jetzt aß Mikki langsamer und trank in kleinen Schlucken den Rest des Weins. Das Essen hatte genauso gewirkt, wie der Wächter es gesagt hatte. Sie war satt und fühlte sich wieder normal – soweit man irgendetwas, was sie in dieser Welt erlebte, als normal bezeichnen konnte.
Und der Wächter … wie konnte ein so mächtiges, furchteinflößendes Wesen sich so anmutig bewegen und wie ein Mann sprechen? Als er noch eine Statue gewesen war, hatte sie gedacht, dass das Menschliche das Animalische überwog, aber als sie ihn in Fleisch und Blut gesehen hatte – und ihn hatte reden hören –, war ihr klargeworden, dass er niemals nur ein Mann sein könnte.
Ihr seid nicht meinetwegen hier. Ihr seid wegen der Rosen hier. Die Worte schienen auf dem verlassenen Balkon widerzuhallen, sie anzuklagen und zu verhöhnen. Nur zu genau erinnerte sie sich an die Traurigkeit in seinen Augen. Konnten Bestien Traurigkeit empfinden? Würde eine Bestie ein luxuriöses Mahl für sie anrichten
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