Göttin der Rosen
Kreis beschworen und das Initiationsritual durchgeführt habe, habe ich mich schöner und mächtiger und richtiger gefühlt als je zuvor.«
Hekate nickte. »Das Blut der Empousa fließt in deinen Adern, Mikado. Du hättest dich in der gewöhnlichen Welt niemals wirklich zu Hause gefühlt. Ein Teil von dir hat sich immer danach gesehnt, deinen Platz in meinem Reich einzunehmen. Ich schätze, selbst deine Mutter und deine Großmutter kannten dieses Gefühl, nie wirklich dazuzugehören.«
Mikki dachte an ihre Mutter und erinnerte sich daran, dass sie oft so gewirkt hatte, als hätte sie eigentlich keine Lust, sich mit anderen Leuten zu unterhalten, sondern wollte lieber allein sein – oder Zeit mit ihren Rosen im Garten verbringen. Sie schien nicht einmal Mikkis Vater zu vermissen, und wenn Mikki nach ihm fragte, hatte sie nur gesagt, dass sie in ihrer Jugend für ihn geschwärmt hatte und ihm ewig dankbar sein würde, weil er ihren allerwichtigsten Schatz in ihr Leben gebracht hatte – ihre Tochter.
Auch ihre Großmutter hatte außer ihrer Tochter und ihrer Enkelin nicht viele Freunde gehabt. Sie redete fast nie über den Mann, der Mikkis Großvater war, und wenn sie es doch einmal tat, sagte sie nur mit einem grimmigen Lächeln, dass sie verschiedene Ansichten über die Ehe gehabt hatten – er hatte sie genossen, sie nicht. Sowohl im Leben ihrer Mutter als auch in dem ihrer Großmutter hatten Männer keine große Rolle gespielt. Was nicht etwa daran lag, dass sie keine wunderbaren, liebenswerten Frauen waren – denn das waren sie gewesen, und Mikki vermisste sie beide sehr. Ihre Großmutter war vor fünf Jahren an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben, und Brustkrebs hatte ihr vier Jahre später auch ihre Mutter genommen. Mikki würde die beiden Frauen immer als wunderschön und alterslos in Erinnerung behalten, als würden sie in eines der Märchen gehören, die ihre Mutter Mikki als kleines Kind vorgelesen hatte. Sie hatten etwas Übernatürliches an sich gehabt.
»Sie haben ihren Frieden gefunden, Mikado. Selbst aus der gewöhnlichen Welt am Rand meiner Wege haben ihre Seelen das Paradies der Elysischen Gefilde und endlich auch ihre wahre Bestimmung gefunden. Du musst nicht um sie trauern.«
Als Mikki ihr Gesicht berührte, war sie selbst überrascht, dass ihr Tränen über die Wangen kullerten. Sie sah zu Hekate auf. »Auch ihr Platz war hier. Deshalb haben sie sich in meiner alten Welt nie wirklich zugehörig gefühlt.«
»Ein Teil von ihnen gehörte hierher, aber die Magie in ihrem Blut war längst nicht so stark wie in dir. Wäre das der Fall gewesen, hätte eine von ihnen den Wächter erweckt und hierher zurückgefunden.«
Mikki wischte sich die Augen ab. »Der Wächter … ich habe ihn letzte Nacht getroffen.«
Die Göttin legte den Kopf schräg und musterte ihre Priesterin eindringlich. »Und wie hast du auf ihn reagiert?«
»Er hat mir Angst gemacht«, antwortete Mikki schnell. Dann fügte sie bedächtiger hinzu: »Aber ich hatte auch irgendwie Mitleid.«
»Mitleid?« Hekate zog ihre dunklen Augenbrauen hoch.
Mikki konnte nur ratlos die Schultern zucken. »Ich weiß auch nicht … er hat etwas so … Einsames an sich.«
»Nirgends auf der Welt gibt es eine zweite Kreatur wie ihn, also ist er von Natur aus einsam. Vor langer Zeit, als ich die Herrschaft über dieses Reich übernommen habe, brauchte ich einen Wächter. Dies ist das Reich, in dem Träume und Magie geboren werden; es muss beschützt werden. Also habe ich die Bestien von einst zu mir gerufen – die unsterblichen Nachkommen der Titanen. Auch wenn ich die Göttin der Bestien bin, herrsche ich nicht über sie. Selbst ich könnte keinen von ihnen in meinen Dienst zwingen. Die Kreatur, die du letzte Nacht getroffen hast, hat sich freiwillig an mich gebunden – er hat diese ewige Last auf sich genommen, obwohl er es nicht musste. Als Dank habe ich ihn mit Kräften aus diesem Reich belohnt, aber der Wächter hat auch seine eigene Magie – er webt die Fäden der Realität in das Netz meines Reiches.«
»War er immer so, wie er jetzt ist?«
Hekate schien direkt in ihre Seele zu blicken. »Der Wächter war nie ein Mann und wird es auch nie sein. Begehe nicht den Fehler, etwas anderes zu glauben.«
Nur mit Mühe gelang es Mikki, bei den zornigen Worten der Göttin nicht zusammenzuzucken, aber sie wechselte hastig das Thema.
»Er wird Wächter genannt, und Ihr habt gesagt, er muss das Reich beschützen. Wovor genau muss er es
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