Göttin der Rosen
Mikki konnte den cremeweißen Marmor der Kuppel von Hekates Tempel sehen und die tanzende Reflexion der Sonne in dem riesigen Brunnen direkt davor.
Der Anblick war so schön, dass sie die Mauer aus Unglauben und Zynismus, die sie schon als Kind um sich herum errichtet hatte, bröckeln fühlte. Hier könnte sie glücklich werden … hier hatte sie vielleicht endlich ihren Platz gefunden.
»Das sind Eure Schützlinge, Empousa.«
An diesem Morgen konnte nicht einmal Hekates plötzliches Auftauchen Mikki erschrecken. Im Gegenteil, die Anwesenheit der Göttin wirkte beruhigend – eine Verstärkung des Wunders, das vor ihr lag.
»Hier gehöre ich hin«, flüsterte Mikki, ohne den Blick von den Gärten abzuwenden.
»Ja, das ist dein Schicksal.« Die Göttin klang erfreut über ihre Erkenntnis.
Mikki wandte sich Hekate zu und errötete überrascht. Letzte Nacht hatte sie das Alter der Göttin auf irgendwo zwischen dreißig und fünfzig Jahren geschätzt. An diesem Morgen trug Hekate wieder ihr nachtfarbenes Gewand und den sternenbesetzten Kopfschmuck. Auch die gigantischen Hunde hockten zu ihren Füßen, genau wie am vergangenen Abend. Aber die Göttin selbst wirkte um Jahrzehnte jünger. Sie hatte das weiche Gesicht und die schlanke Figur eines Teenagers, und ihre glatten Wangen waren so sanft gerötet wie ein frischer Pfirsich.
Hekate runzelte die Stirn. »Erkennst du deine Göttin nicht wieder, Empousa?«
Mikki schluckte. Die Göttin mochte wie ein Teenager aussehen, aber ganz offensichtlich hatte sie nichts von ihrer mächtigen Aura verloren.
»Selbstverständlich erkenne ich Euch, aber Ihr seid so jung!«
»Aus meinen drei Gestalten habe ich mir heute die des Mädchens ausgewählt. Aber lass dich von der jugendlichen Fassade nicht täuschen. Dir müsste doch klar sein, dass das Äußere einer Frau nicht ihr Inneres bestimmt.«
»Es mag sie nicht bestimmen, aber es beeinflusst sie schon. Ich bin alt genug, um das zu wissen«, erwiderte Mikki automatisch. Entsetzt über ihren eigenen brüsken Ton, fügte sie schnell hinzu: »Aber das sollte nicht respektlos klingen.«
Die klugen grauen Augen wirkten in dem jungen Gesicht der Göttin merkwürdig erwachsen. »Ich finde es selten respektlos, wenn eine Empousa mir ihre ehrliche Meinung sagt, Mikado. Und du hast recht. Zu oft werden wir nach unserem Aussehen beurteilt, besonders in deiner alten Welt, in der die Lektionen der Göttinnen größtenteils in Vergessenheit geraten sind.« Hekate zuckte die Schultern. »Sogar in meinem eigenen Reich, wo das Ansehen einer Frau nun wirklich nicht von ihrem Äußeren abhängen sollte, vergessen meine Töchter die Lehren der dreigestaltigen Göttin allzu oft.« Hekates kluge Augen funkelten. »Zum Beispiel würden viele sagen, dass eine Empousa in deinem fortgeschrittenen Alter die Rolle meiner Hohepriesterin nicht mehr annehmen sollte. Sie würden es nicht in meiner Gegenwart ansprechen, aber sie würden es denken. Und wie würdest du auf ihre Dreistigkeit reagieren, Mikado?«
Mikki ignorierte ihren steifen Rücken und ihre schmerzenden Muskeln und begegnete dem durchdringenden Blick der Göttin erhobenen Hauptes. »Ich würde erwidern, dass ich zwar älter bin, aber auch viel mehr erlebt habe, also sollten die dummen jungen Dinger besser aufpassen, was sie sagen. Alter und Heimtücke siegen normalerweise über Jugend und Überschwang.«
Hekate lachte, und dabei veränderte sich ihr Äußeres, bis wieder die schöne, mittelalte Frau vor Mikki stand, als die sie die Göttin in der Nacht zuvor kennengelernt hatte. »Ich werde dir ein Geheimnis verraten, meine Empousa. Das hier ist meine liebste Gestalt von den dreien. Jugend wird oft überbewertet.«
»Vor allem von jungen Leuten«, stimmte Mikki zu.
Die beiden lächelten sich an, und einen Moment waren sie nicht eine Göttin und eine Sterbliche, sondern einfach zwei Frauen in vollkommenem Einverständnis.
Nach einem kurzen, nicht unangenehmen Schweigen sagte die Göttin: »Ich schätze, das alles hier« – sie machte eine Handbewegung, die sowohl die Gärten als auch den Palast einschloss – »erscheint dir ziemlich ungewöhnlich.«
Ermutigt von der Offenheit der Göttin, wagte Mikki ein schiefes Grinsen. »Es ist seltsam und ungewöhnlich und auch ein wenig überwältigend, aber ich fühle mich zu allem hingezogen.« Um zu vermeiden, dass Hekate dahinterkam, dass zu »allem« auch ihr gehörnter nächtlicher Besucher gehörte, sprach sie rasch weiter. »Als ich den
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