Göttin der Rosen
sprach, klang sie kalt und gefühllos. In ihren Augen war er ein wildes Tier, und als solches verdiente er nicht denselben Luxus und dieselbe Rücksicht wie alle anderen. Dabei war er es, der ihr Reich beschützte.
Tief in ihrem Inneren fühlte Mikki, wie falsch das war – schrecklich, verletzend und falsch.
Aber sie widersprach Gii nicht und fragte auch nicht weiter nach. Sie wusste einfach nicht genug darüber, was hier vor sich ging. Noch nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, und es hatte mit dem Wächter zu tun. Die Krankheit der Rosen hatte sie gelehrt, dass in diesem Reich nicht alles so war, wie es auf den ersten Blick schien. Sie würde die Augen offenhalten und den Wächter beobachten. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie vielleicht herausfinden würde, was sich hinter seiner Fassade verbarg, wenn sie sein Vertrauen gewinnen konnte. Gesetzt den Fall, dass er sie nah genug an sich heranließ – und dass sie den Mut fand, ihm nahezukommen. Bis dahin würde sie abwarten, lernen, was sie konnte, und sich auf ihren Instinkt verlassen.
»Erzähl mir von den – wie hast du sie genannt – Traumweberinnen?«, wechselte Mikki das Thema.
Sofort hellte sich Giis Gesicht auf. »Die Traumweberinnen haben die Fähigkeit, das Gewöhnliche – und das nicht ganz so Gewöhnliche – in Träume und Magie einzuweben, die sie dann in andere Welten entsenden. Hier, im Reich der Rose, werden alle Träume und die ganze Magie der Menschheit geboren.«
Mikki konnte es kaum fassen. »Und mit ›andere Welten‹ meinst du …?«
»Zum Beispiel deine frühere Welt, die gewöhnliche Welt. Dann gibt es noch die Alte Welt, wo die Götter und Göttinnen bis heute verehrt werden. Aus der Alten Welt wurden die Frauen dieses Reiches erwählt.«
Hatte Hekate nicht etwas Ähnliches gesagt? Als die Göttin ihr von den Scheidewegen zwischen den Welten erzählt hatte, war Mikki das Ganze noch völlig unmöglich erschienen, aber heute konnte sie die faszinierenden Details ihres neuen Zuhauses schon viel besser einordnen. Und ihr wurde bewusst, dass wenigstens eine der unzähligen Fragen in ihrem Kopf beantwortet war. Die anderen Empousas waren aus der Alten Welt gekommen, und wahrscheinlich hatten sie sich dorthin zurückgezogen. Auf eine leicht verrückte Art ergab das sogar einen Sinn.
»Du hast gesagt, die Frauen müssten zurück in den Palast, um die Traumweberinnen abzulösen. Also weben sie die Träume und Magie direkt im Palast?«
»Ja, Empousa.«
»Das würde ich gern sehen. Kann ich vielleicht dabei zuschauen?«, fragte Mikki erwartungsvoll.
»Ihr könnt nicht nur zuschauen. Als Empousa habt Ihr auch die Fähigkeit, Träume und Magie zu weben.«
18
Sie hatte also die Fähigkeit, Träume und Magie zu weben …
Giis Worte gingen ihr den ganzen Tag nicht aus dem Kopf, sondern drehten sich unablässig in ihren Gedanken, die genauso aktiv waren wie ihre Hände. Allein die Idee, dass Träume von einem anderen Ort kamen als aus dem schlafenden Unterbewusstsein, war bizarr genug. Aber die Vorstellung, dass sie, Mikki, sie erschaffen konnte! So etwas hätte sie nicht einmal in ihren kühnsten Träumen für möglich gehalten.
»Empousa.«
Die tiefe Stimme des Wächters erschreckte sie, aber sie überspielte ihre Nervosität, indem sie ihre Hände sorgfältig an ihrem schlammbespritzten Chiton abwischte, bevor sie sich aus dem ungewöhnlich großen Beet von Félicité-Parmentier-Rosen aufrichtete. Er stand so nahe, dass sein Schatten sowohl über sie als auch über die Rosen fiel, an denen sie gearbeitet hatte. Seine Nähe machte sie unruhig. »Oh, Wächter, einen Moment«, sagte sie energisch, um ein bisschen Zeit zu schinden. Dann rief sie: »Gii, die Rosen in diesem Beet müssen hochgebunden werden. Könntest du mich daran erinnern, dass wir uns morgen ein paar Holzpflöcke zurechtschneiden und herbringen lassen?«
»Ja, Empousa«, rief Gii zurück.
Jetzt hatte Mikki ihre Fassung einigermaßen zurückgewonnen, so dass sie sich wieder dem Wächter zuwenden konnte. »Entschuldige bitte. Was kann ich für dich tun?«
»Es wird bald dämmern. Die Frauen sollten nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr im Wald sein.«
Mikki sah über seine Schulter zur Sonne hinauf, die tatsächlich langsam hinter den Bäumen versank. »Ich habe die Zeit ganz aus den Augen verloren. Ständig wundere ich mich darüber, wie spät es schon ist. Du hast recht; wir sollten Schluss machen.«
»Ihr habt viel erreicht, Empousa.«
Mikki lächelte.
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