Göttin der Rosen
vor den anderen Frauen argumentiert.
»Der Wald ist nicht sicher«, entgegnete er stur.
»Deswegen bist du doch hier, oder?«
Er knurrte irgendetwas Unverständliches, was ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte, aber sie weigerte sich, einen Rückzieher zu machen oder auch nur den Blick von ihm abzuwenden. Sie wusste, was die Rosen brauchten, und manches davon gab es nur dort draußen. Mr. Mürrisch würde sich damit abfinden müssen; sie würde sich nicht von seiner einschüchternden Art davon abhalten lassen, das Richtige zu tun. Was konnte er ihr in Anwesenheit all dieser Frauen schon anhaben? Sie auffressen? Sie beißen? Sie packen und schütteln? Also bitte. Sie war die Empousa – er musste für ihre Sicherheit sorgen. Bestimmt konnte er nichts Schlimmeres riskieren als einen Wutanfall und anschließend davonstapfen. Und wenn er das tat, musste sie einfach in sich hineinhorchen und herausfinden, wie, zum Teufel, sie ein Tor öffnen sollte, das keine Klinke, keinen Riegel oder …
»Die Frauen müssen bleiben, wo ich sie sehen kann.«
»Ganz wie du willst. Sicherheit ist dein Job, nicht meiner.«
Der Wächter bedachte sie mit einem bösen Blick.
»Ich wollte sagen: Ganz wie du willst, solange du die Frauen in den Wald gehen und die Lehmerde holen lässt«, berichtigte sie sich in süßlichem Ton.
»Mir gefällt das Ganze trotzdem nicht.«
»Und ich bestehe trotzdem darauf.« Mikki spürte, dass alle Frauen sie anstarrten. Sie schienen schockiert, dass sie dem Wächter Paroli bot, und Mikki fragte sich nicht zum ersten Mal, wie wohl die anderen, jüngeren Empousas Auseinandersetzungen mit dem Biestmann gehandhabt hatten. Das spielt keine Rolle, ermahnte sie sich streng. Ich bin jetzt die Empousa, und er muss lernen, dass ich kein dummes Gör bin, das er herumkommandieren kann.
»Bah«, schnaubte er. Doch er ging zum Tor, hob die Hände und sagte ein paar Worte in einer Sprache, die Mikki nicht verstand, aber deren Macht ihr eine Gänsehaut verursachte. Das Rosentor öffnete sich langsam und nur so weit, dass der Wächter seinen stämmigen Körper hindurchzwängen konnte. Sie folgte ihm, und so betraten die Frauen, angeführt von Gii, hinter dem Biestmann und ihrer Empousa den dunklen Wald.
Und der Wald war wirklich finster. Die riesigen, uralten Eichen hatten solch einen gigantischen Umfang, dass selbst der Wächter sie nicht mit den Armen hätte umschließen können, und ihre dichten Äste bildeten ein Dach aus üppigem Grün, durch das nur sehr wenig Sonnenlicht hindurchsickerte. Aber ansonsten wirkte der Wald ganz normal. Vögel zwitscherten. Eichhörnchen huschten umher. Mikki meinte sogar, ein aufgeschrecktes Reh zu erkennen, das schnell vor ihnen davonlief.
Die Frauen, die den blättrigen Lehm vom Boden aufsammelten, waren ungewöhnlich still und blieben zur Sicherheit in der Nähe des Tors, aber keine Ungeheuer fielen über sie her. Die ganze Zeit lief der Wächter rastlos zwischen ihnen hin und her und spähte mit seinen scharfen Augen in die Tiefen des Waldes.
Giis freundliche Stimme holte Mikki in die Gegenwart zurück. »Es ist Mittag, Empousa«, verkündete die Dienerin der Erde und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie zeigte auf eine Gruppe von Frauen, die sich nicht aus der Richtung näherten, aus der der Dünger herangetragen wurde, sondern vom Palast her. »Die Frauen dort drüben bringen Essen«, erklärte sie.
»Ist es wirklich schon so spät?« Mikki riss ihren Blick von dem stets wachsamen Wächter los und lächelte die Dienerin an.
»Ja, Empousa. Einige der Frauen müssen etwas essen und dann die Erlaubnis bekommen, ihre Plätze mit den Traumweberinnen im Palast tauschen zu dürfen.«
»Traumweberinnen?«
»Oh, ich habe ganz vergessen, dass Ihr Euch mit diesem Reich und seinen Gebräuchen nicht auskennt, besonders nachdem ich heute gesehen habe, wie Ihr mit …« Gii verstummte, und ihr Blick schweifte wie von selbst zu dem offenen Tor und dem grimmigen Wächter, der dahinter stand. »… den Rosen umgeht.«
Mikki ignorierte ihre Anspielung auf den Wächter, weil sie nicht recht wusste, wie sie sich in dieser Hinsicht verhalten sollte. Zu gern hätte sie der Dienerin all die Fragen gestellt – über den Wächter und die Frauen, die vor ihr das Amt der Empousa innegehabt hatten. Wo waren die früheren Empousas jetzt? Waren sie in eine Art Ruhestand versetzt worden? Wenn dem so war, könnte dann nicht eine von ihnen für kurze Zeit zurückkommen und …
Weitere Kostenlose Bücher