Göttin der Rosen
Offenbar war der Wächter nicht mehr wütend auf sie. »Das klingt wie ein Kompliment.«
Er neigte den Kopf. »So war es auch gemeint.«
Da er wieder besserer Laune zu sein schien, sagte Mikki: »Es wäre eine große Hilfe, wenn du den Rest der Rosenmauer überprüfen und mir sagen könntest, ob noch andere Stellen geschwächt aussehen. Die Mauer ist so unendlich lang. Ich möchte mich vergewissern, dass sie gut gedüngt ist, aber wir müssen uns auch um die Rosen in den Gärten kümmern.«
»Das klingt nach einem guten Plan. Die Gärten brauchen auch Eure Zuwendung. Ich werde die Mauer gleich bei Tagesanbruch überprüfen.«
Sie versuchte, nicht auf seine Hörner zu starren, die im Licht der untergehenden Sonne rötlich schimmerten. »Danke. Das wird mir viel Zeit sparen.« Als er keine Anstalten machte zu gehen, fuhr sie fort: »Ich dachte, ich könnte Gii oder eine der anderen Frauen bitten, mir eine Karte von den Gärten zu zeichnen. Ich möchte die Anlage in vier Bereiche aufteilen – Norden, Süden, Westen, Osten – und jede der Dienerinnen mit einer Gruppe von Frauen in ihre angestammte Himmelsrichtung schicken. Ich würde natürlich in allen Bereichen nach dem Rechten sehen, aber so lässt sich die Arbeit vielleicht besser organisieren.«
»Die Idee hat sehr viel für sich.« Er schien noch mehr sagen zu wollen, sah dann aber weg, als hätte er es sich anders überlegt.
»Was ist los? Hey – ich bin für jeden Rat dankbar, den du mir geben kannst. Du musst wirklich nicht befürchten, mir auf die Zehen zu treten.«
Verwundert legte er die Stirn in Falten und blickte ratlos von seinen Hufen zu ihren leichten Schuhen. Mikki brach in Gelächter aus, und einige Frauen schauten neugierig zu ihnen herüber. »Ich meinte das nicht wörtlich. Das ist nur eine Redensart – du wärst mir auf die Zehen getreten, wenn ich es dir übelnehmen würde, dass du mir Ratschläge gibst, um die ich nicht gebeten habe.«
»Oh«, schnaubte er. Und dann fing das Biest an zu lachen. Es war ein voller Ton, der die Frauen um sie herum ebenso überraschte wie Mikki. Sie starrten ihn fassungslos an.
»Du lachst nicht, weil du ernsthaft in Erwägung ziehst, mir auf die Zehen zu treten, oder?«
»Jetzt, wo du dich bereit erklärt hast, die Frauen aus dem Wald zu holen, muss ich das nicht mehr tun.«
Ein Witz? Machte er wirklich Scherze mit ihr? Ihr neues Leben erstaunte sie immer wieder aufs Neue.
»Gii«, rief sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden, »würdest du den anderen Frauen bitte sagen, dass wir für heute fertig sind? Ruf zuerst die Frauen aus dem Wald zurück. Der Wächter würde das Tor gern so bald wie möglich schließen.«
»Ja, Empousa.« Die Dienerin der Erde warf dem Wächter einen nervösen Seitenblick zu.
»Danke, Mikado. Das Reich erscheint mir nie sicher, wenn das Tor offen ist«, erklärte er.
Während sie noch überlegte, ob jetzt der richtige Moment gekommen war, um ihn nach den Gefahren des Waldes zu fragen, bückte Mikki sich nach der Schere, mit der sie die Rosen zurückgeschnitten hatte, und dabei rutschte ihr der schmale Träger ihres Chitons über die Schulter. Bevor sie ihn wieder hochschieben konnte, fühlte sie ein heißes Prickeln ihren Arm hinaufwandern. Der Biestmann senkte wie in Zeitlupe den Kopf, fing den Träger geschickt mit der Spitze eines seiner schwarzen Hörner auf und schob ihn an seinen Platz über ihrer Schulter zurück.
Ihre Blicke trafen sich.
»Ich … ich bin es nicht gewohnt, einen Chiton zu tragen«, stammelte sie.
»Er steht Euch aber gut.«
»D-danke«, hauchte sie atemlos. Obwohl ihre Stimme kaum mehr war als ein Flüstern, trieb die Intensität seiner dunklen, sinnlichen Augen sie dazu zu fragen: »Gehört das zu deinen Pflichten als Wächter?«
Sein Gesicht, das ihr noch vor einem Moment so leicht zu lesen erschienen war, erstarrte auf einmal wieder zur Maske. Als hätte er sich eines Besseren besonnen, wich er hastig einen Schritt zurück. Seine Stimme klang abgehackt, und er sah sie nicht an, als er antwortete: »Meine Pflicht … ja. Es ist meine Pflicht, für Euch zu sorgen.«
Mikki runzelte die Stirn. Was, zum Teufel, war mit ihm los? Seine Stimmungsschwankungen und die unangenehme Stille, die sich plötzlich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, machten ihr wirklich zu schaffen. Sie suchte nach etwas, irgendetwas, was sie sagen konnte, aber dann sprach er endlich weiter.
»Ich könnte eine Karte für Euch zeichnen, Empousa.«
Seine Stimme klang tief
Weitere Kostenlose Bücher