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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schnell: »Leben alle Diener im Haus?«
    »Nur eine Handvoll.« Er deutete auf einen weinbewachsenen Hang im Süden des Tals. »Auf der anderen Seite liegt ein Dorf. Man sollte es nicht für möglich halten, aber dort leben San und Herero einigermaßen friedlich beieinander. Auch das wurde gewiß erst durch die Anwesenheit des weißen Mannes ermöglicht, glauben Sie mir. Die Fehden dieser Völker sind legendär und waren stets mit entsetzlichen Massakern verbunden.«
    »Welches Volk ist hier im Tal in der Überzahl?«
    »Die San, obwohl sie eigentlich in den Trockengebieten zu Hause sind, in der Namib und am Rande der Kalahari. Dies alles hier war einmal Hereroland, aber die Herero neigen zur Rebellion, und so sind über neunzig Prozent unserer Bediensteten San – das gilt übrigens auch für die Schwarzen, die Sie in Windhuk gesehen haben. Bei aller Primitivität muß man ihnen lassen, daß sie ein freundliches und zuvorkommendes Völkchen sind. Zum Dank dafür haben wir die Bezeichnung ›Buschleute‹, die die holländischen Siedler ihnen einst gaben, weitgehend abgeschafft. Wir nennen sie nur noch San, obwohl sie untereinander meist das Wort ›Ju‹ benutzen.« Er lächelte nachsichtig. »Das ist alles ein wenig kompliziert, aber Sie werden es schon noch verstehen.«
    Cendrine schenkte ihm einen zynischen Blick. »Ich bin sicher, im Gegenzug für soviel Großzügigkeit haben sich die San wunderbar in Ihre Schablone pressen lassen.«
    »Ach, Fräulein Muck«, seufzte er, wirkte aber keineswegs verärgert. »Sie werden noch eine Menge lernen müssen. Im Inneren eines Schwarzen sieht es oft ganz anders aus, als die Fassade verrät. Gewiß, die San sind höflich und dienstbar, und sie sind sich auch für harte Arbeit nicht zu schade. Aber das sollte einen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie in Wahrheit immer ein Volk von Jägern und Nomaden bleiben werden. Jene, die sich noch draußen in den Wüsten herumtreiben, gründen nicht einmal Stämme. Sie ziehen im Familienverbund umher, es gibt bei ihnen weder Häuptlinge noch Könige. Der Unterschied zu den Herero ist vor allem der, daß die San nicht versuchen, ihren Drang nach Selbstbestimmung mit Gewalt durchzusetzen.« Er rückte seinen Hut zurecht, als das Gespann über den Kiesplatz vor das Portal des Hauses rumpelte. »Aber, bitte, Fräulein Muck, halten Sie uns nicht für Sklaventreiber, denn das sind wir nicht. Jeder unserer Bediensteten, egal ob Butler oder Weinpflücker, kann gehen, wann und wohin es ihm beliebt.« Er sagte nicht, ob ihm diese Regelung gefiel oder nicht, konnte es sich aber nicht verkneifen, noch hinzuzufügen: »Sie müssen wissen, mein Vater ist ein überaus toleranter Mensch.«
    Der Hof war rechteckig und wurde an drei Seiten von den Fassaden das Haupthauses eingefaßt. In seiner Mitte befand sich eine ovale Rasenfläche, die von vier San-Kindern mit Gießkannen bewässert wurde. Immer, wenn die Kannen leer waren, mußten die Kinder zu einer Wasserpumpe laufen, die sich am offenen Ende des Hofes befand. Dort stand eine Frau, vielleicht die Mutter der vier, und bediente den Pumpenhebel.
    Cendrine stieg vom Wagen und sah zu, wie auch der Kutscher vom Bock sprang und sich daran machte, ihr Gepäck abzuladen. Zum erstenmal fiel ihr auf, wie klein er war. Sie hatte gelesen, daß San nicht größer wurden als einen Meter sechzig. Wahrscheinlich waren auch die vier Kinder älter, als sie erschienen, obwohl keines bis zu Cendrines Bauchnabel reichte.
    »Warten Sie bitte einen Augenblick«, bat Valerian, »ich werde versuchen, meine Mutter zu finden. Sie wird wissen, ob für Sie schon eine Führung durchs Haus geplant ist oder ob Sie sich erst in Ihrem Zimmer ausruhen sollen.«
    Sie könnten fragen, was mir lieber wäre, lag ihr als Einwand auf der Zunge. Allmählich würde sie sich damit abfinden müssen, daß sie fortan vierundzwanzig Stunden am Tag der Herrschaft des Hauses Kaskaden unterstand. Immerhin war dies der Tag, auf den man sie in den Jahren an der Wilhelmine-Fleischer-Schule vorbereitet hatte.
    Während Valerian ins Haus ging, näherte Cendrine sich neugierig den vier Kindern auf dem Rasen. Drei von ihnen hatten gerade ihre Gießkannen ausgeleert und liefen zurück zu der Frau an der Wasserpumpe. Das vierte aber stand noch da und drehte den breiten Strahl seiner Kanne gedankenverloren im Kreis. Es trug selbstgenähte Kleidung, augenscheinlich jener der Kolonialherren nachempfunden, nur daß Kragenspitzen und Ärmel viel zu lang

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