Göttin der Wüste
weitere Anbauten und Erker zu sprießen, als hätte das Gebäude über die Jahre hinweg wie ein Baum neue Triebe entwickelt, die sich beständig verzweigten.
Wenn ihr Richtungssinn sie nicht täuschte, mußte es sich bei dem Trakt, durch den sie gingen, um den Ostflügel handeln. Allerdings waren die Korridore lang und verwinkelt, und bald schon war sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich nicht längst in einem anderen Teil des Komplexes befanden. Die meisten Gänge hatten an einer Seite Fenster, die auf den Kiesplatz an der Hausfront oder aber in kleinere, verwinkelte Innenhöfe wiesen. Die Flure selbst waren mit gemusterten Teppichen ausgelegt, die Wände getäfelt und die Decken mit Stuckleisten geschmückt. Dennoch konnte sich Cendrine nicht des Eindrucks erwehren, daß dieser Abschnitt des Anwesens menschenleer war.
Als sie den Butler danach fragte, nickte er. »Niemand lebt hier. Die Dame des Hauses plant, diesen Trakt zu einem Hotel umzubauen.«
Das erstaunte sie. Madeleine Kaskaden hatte auf sie den Eindruck einer Frau gemacht, die ihre Privatsphäre über alle Maßen schätzte. Daß sie die Absicht hatte, Fremden den Zutritt zu ihrem Anwesen zu ermöglichen, stand dazu in krassem Gegensatz. Vorschnelle Urteile über den Charakter dieser Frau schienen demnach wenig ratsam.
Noch etwas fiel Cendrine während des Weges auf: Immer wieder waren in die Wände und Böden Fragmente mit archaischen Strukturen eingelassen, meist Quader und Säulen, halb in die Mauern eingearbeitet, deren Oberflächen primitive Reliefs von Gesichtern und Jagdszenen aufwiesen. Der äußerst britische Anschein der ganzen Anlage wurde dadurch immer wieder gebrochen, eine reizvolle List des Architekten, um dem Standort des Gebäudes gerecht zu werden. Je aufmerksamer sie darauf achtete, desto mehr dieser Strukturen entdeckte sie, oft halb verborgen hinter Möbelstücken, als hätte jemand versucht, sie zu verstecken.
Cendrines Zimmer war geräumig und überraschend wohnlich eingerichtet. Neben einem prachtvollen Baldachinbett, bespannt mit türkisfarbener Seide, standen vor einer offenen Feuerstelle zwei Ohrensessel und ein kleiner runder Mahagonitisch. Wände und Decken waren holzgetäfelt. Rund um den Kamin hatte man steinerne Reliefs in Form von Raubtierköpfen angebracht. Es gab einen Schreibtisch und ein Bücherregal, beides unweit eines Erkers mit hohen Fenstern. Die Scheiben waren in ein Gitterwerk aus Holzstreben eingesetzt und blickten hinaus auf eine mit Akazien bestandene Wiese, die in hundert Metern Entfernung in die Reihen der Weinreben überging. Seltsamerweise schien es auf dieser Seite des Anwesens keine Mauer zu geben, die die Gärten begrenzte.
Johannes stellte das Gepäck ab, dann ließ er Cendrine allein. Es verunsicherte sie ein wenig, daß sie nicht hören konnte, wie er sich auf dem Gang entfernte. Die Teppiche schluckten jedes Geräusch seiner Schritte.
Als erstes trat sie näher an das Bücherregal und stellte fest, daß es sich bei den alten Bänden, die darin aufgereiht waren, ausnahmslos um Kinderliteratur handelte, meist teure, handgefertigte Bilderbücher über das Reiten, wilde Tiere und das Leben in den Kolonien. Nahezu alle waren Einzelstücke, deren Zeichnungen von ein und demselben Künstler zu stammen schienen.
Cendrine schaute sich noch einmal eingehender im Zimmer um, und da fielen ihr weitere Einzelheiten auf, die verrieten, daß hier irgendwann einmal ein Kind, ein Mädchen, gewohnt hatte. Auf der Fensterbank saßen Puppen mit milchigen Porzellangesichtern, und der Spiegel auf dem Schminktisch war mit verspielter Seidenspitze abgesetzt. Sogar der Teppich wirkte ein wenig bunter als jene auf den Gängen. Offenbar hatte man alles so belassen, wie es früher gewesen war, wohl in der Erwartung, daß Cendrine sich den Raum ohnehin so gestalten würde, wie es ihr am besten gefiel. Dabei hatte sie eigentlich recht wenig daran auszusetzen. Nur die Puppen räumte sie in die untere Schublade einer Kommode, weil ihr der leere Blick der Porzellanaugen unheimlich war.
Valerian hatte ihr während der Fahrt erzählt, daß das gesamte Anwesen in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von einem englischen Lord errichtet worden war, einem Archäologen namens Selkirk. Er war mit seiner Familie nach Afrika gekommen, um Ausgrabungen in der Namib und der Kalahari-Wüste im Osten des Landes vorzunehmen, an der Grenze zu Britisch-Betschuanaland. Selkirk hatte sich bereits in seiner Heimat einen
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