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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zog sie durch den Nebel davon. Sie folgte ihm völlig perplex, unfähig zu widersprechen, ihn anzubrüllen oder anderweitig zurechtzuweisen. Was sonst hätte sie auch tun können? Sie hatte ihn bereits geschlagen und angespuckt, das ließ sich kaum mehr überbieten. Und gewiß wäre es kein guter Einstand bei den Kaskadens gewesen, ihm gleich hier auf der Straße die Augen auszukratzen.
    ***
    »Ein Schlafabteil?« fragte sie erstaunt, als ein Schaffner ihr den Wagen zuwies, in dem Plätze für sie und Valerian reserviert waren.
    »Ein Einzelabteil, natürlich«, sagte Valerian hastig, der neben dem Schaffner an dem winzigen Bahnsteig Swakopmunds stand. »Meines ist das daneben.«
    »Wie lange wird die Fahrt dauern?«
    »Etwa achtundzwanzig Stunden, Fräulein«, entgegnete der Schaffner ungeduldig. Auf Valerians Geheiß hatte er die Abfahrt hinausgezögert. Der Zug war bereits eine halbe Stunde überfällig, und die übrigen Passagiere murrten. Zum erstenmal bekam Cendrine einen Eindruck von der Macht der Kaskadens in diesem Land.
    »So lange?« entfuhr es ihr verwundert. »Für zweihundertsechzig Kilometer?«
    »Das ist die Luftlinie, Fräulein«, wies der Schaffner sie förmlich zurecht. »Die Bahnfahrt umfaßt haargenau dreihundertzweiundachtzig Kilometer.«
    Valerian gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, daß er sich entfernen dürfe. Während sich der Schaffner abwandte und zur Lokomotive ging, verstaute Valerian Cendrines Gepäck. Die Türen der einzelnen Abteile öffneten sich zum Bahnsteig, nicht wie üblich zu einem Korridor im Inneren des Waggons. Während der Fahrt waren die Passagiere in ihren Kabinen völlig voneinander abgeschnitten.
    »Der Zug fährt über Karibib und Okahandja, deshalb die längere Route«, erklärte Valerian, und mit einem Seufzen setzte er hinzu: »In Anbetracht einer Geschwindigkeit von vierzehn Kilometern in der Stunde darf Sie die lange Fahrt nicht wundern. Hier in Südwest braucht alles etwas mehr Zeit als anderswo. Bei der Einweihung vor ein paar Jahren war dies hier die erste Bahnverbindung im ganzen Land. Es gibt eine Menge Leute, die noch immer ziemlich stolz darauf sind.«
    Cendrine nickte abwesend, während sie angestrengt überlegte, wie sie Valerian aus ihrem Abteil komplimentieren konnte. Ihre Abneigung gegen ihn war ungebrochen. Außerdem fühlte sie sich abscheulich, weil sie die kleine Friederike nicht einmal mehr hatte trösten können. Das Mädchen mußte annehmen, Cendrine habe sie einfach vergessen.
    »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kleinen«, sagte Valerian plötzlich, als habe er in ihren Gedanken gelesen. »Ich werde herausfinden, wo sie lebt. Sie können ihr einen Brief schreiben, wenn Sie wollen.«
    »Ihre Mutter ist eine geborene von Öblitz. Der Vater ist Soldat der Schutztruppe in« – sie überlegte – »in Okombahe, glaube ich.«
    »Um so leichter wird es sein, ihn ausfindig zu machen.« Wieder zuckten Valerians Augenlider, als sich ihre Blicke kreuzten. »Verlassen Sie sich ganz auf mich.«
    Hatte er wirklich das Bedürfnis, seine Tat wiedergutzumachen? Falls das seine Form der Entschuldigung war, so war Cendrine keineswegs bereit, sich damit zufriedenzugeben.
    Vom Bahnsteig ertönte die Pfeife des Schaffners, und fast im selben Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung.
    »O nein«, entfuhr es Valerian, aber seine Überraschung klang gespielt. »Ich fürchte, jetzt muß ich bis zum nächsten Stopp bei Ihnen bleiben.«
    Der Zug nahm immer noch Fahrt auf, rollte gerade einmal im Schrittempo am Bahnsteig vorüber. Es hätte Valerian keine Mühe gekostet, jetzt noch auszusteigen und in sein eigenes Abteil überzuwechseln. Aber er wollte Cendrine offenbar Gesellschaft leisten, und sie brachte nicht mehr den nötigen Zorn auf, ihn einfach hinauszuwerfen. Wenn er sich aufgrund eines Mißgeschicks den Fuß umknickte und vielleicht noch unter den Zug geriet, sollte das nicht ihre Schuld sein.
    Auf der einen Seite des Abteils befand sich eine schmale Liege, auf der anderen zwei gepolsterte Sitze. Cendrine nahm ihren Mantel ab, legte ihn auf das Bett und setzte sich auf den Platz am Fenster. Sie war bemüht, Valerian nicht weiter zu beachten, zog aus einer ihrer Reisetaschen ein Buch hervor und tat, als vertiefe sie sich in die Lektüre. Tatsächlich stand ihr der Sinn nicht im mindesten nach Lesen, aber alles war besser, als sich mit diesem Rüpel unterhalten zu müssen.
    Sie spürte, daß er sie beobachtete, doch als sie ruckartig den Kopf hob und

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