Göttin des Frühlings
zu dem schmalen Band. Absichtlich hatte sie sich dieses bis zum Schluss aufgehoben. Schon in der Buchhandlung hatte sie das Cover fasziniert, ein sattes Königsblau mit einer in Gold geprägten Illustration. Der Titel,
Kochbuch der italienischen Göttin,
prangte über der Darstellung einer streng dreinschauenden Herrscherin auf einem prächtigen Thron. Sie trug ein langes Gewand, ihr Haar war in aufwendigen Zöpfen um ihren Scheitel gewunden. In der einen Hand hielt sie ein Zepter, das von einer reifen Kornähre gekrönt wurde, in der anderen eine flammende Fackel. Unter dem Bildnis stand in eleganter goldener Schrift:
Rezepte und Zauberformeln für die Göttin in jeder Frau
. Der Name der Autorin, Filomena, war unter der Abbildung in den Einband gesetzt.
»Nur noch ein Rezept. Ich möchte bitte noch ein einziges Rezept finden, dann mache ich Schluss«, sagte Lina und fuhr mit der Hand über die erhabene Prägung.
Ihre Fingerspitzen kribbelten.
Sie legte das Buch auf ihren Schoß und rieb sich die Hände. Langsam wurde sie müde. Lina warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Es war erst kurz nach neun, aber sie hatte einen langen Tag hinter sich.
Erneut betrachtete sie den Einband. In der goldenen Schrift fing sich das Licht der Lampe, so dass die Worte
Rezepte und Zauberformeln für die Göttin in jeder Frau
zu leuchten und zu funkeln schienen.
Was für ein ungewöhnlicher Zufall, dass die Frau, die wie eine italienische Göttin backte, eine ausrangierte alte Ausgabe vom
Kochbuch für italienische Göttinnen
gefunden hatte. Ihre Großmutter hätte von
La magia dell’Italia
gesprochen, vom Zauber Italiens. Spontan schloss Lina die Augen. Sie glaubte an den Zauber Italiens. Gespürt hatte sie ihn im Florentiner Dom mit seinem bunten Marmor, in Assisi mit den geraniengefüllten Blumenkästen und im gespenstischen Wunder des nächtlichen Forum Romanums. Lina konzentrierte sich auf die Liebe zur Heimat ihrer Großmutter, dann schlug sie das Buch auf ihrem Schoß so auf, dass die Seiten selbst entschieden, ob sie nach links oder rechts fallen wollten.
Lina öffnete die Augen und begann zu lesen:
Pizza alle romana oder Pizza am Meter. Dieses außergewöhnliche Rezept stammt aus Rom. Am besten ist es, wenn der weiche, geschmeidige Teig sehr lange ruhen kann – bis zu acht Stunden; je länger, desto besser –, dann lege man ihn auf einen 75 cm langen Brotschieber und knete ihn rhythmisch mit solcher Kraft, dass er buchstäblich unter den Fingern zu tanzen beginnt.
Überrascht kniff Lina die Augen zu und grinste. Ein Brotschieber! Dieses lange Holzpaddel, mit dem man Brot in den Holzofen schob und wieder herausfischte. Selbstverständlich besaß
Pani della Dea
mehrere davon. Lina las weiter:
Wenn der Teig seinen Tanz beendet hat, bestreiche man ihn mit Öl und schiebe ihn in den Ofen. Dann geschieht etwas ganz Erstaunliches: Zieht man den Schieber sehr vorsichtig wieder heraus, wird der unglaublich elastische Teig zu einem dünnen, luftigen Strang von bis zu sagenhaften sechzig Zentimeter Länge gedehnt – je nachdem, wie groß der Ofen der jeweiligen Göttin ist.
Nun,
Pani della Dea
verfügte über mehrere sehr tiefe Öfen. Lina könnte den Teig auf seine vollen sechzig Zentimeter dehnen! Sie überflog den Rest des Rezepts. Das Buch schlug verschiedene Beläge vor – von leichter Pizza bianca mit Olivenöl, Knoblauch, Rosmarin, Salz und Pfeffer bis zu Pizza pugliese, die ein wahres Füllhorn italienischer Zutaten repräsentierte: Aubergine, Provolone, Sardellen, Oliven … und noch vieles mehr.
»Das könnte die Lösung sein. Warum sich mit einer Handvoll verschiedener Rezepte herumschlagen? Warum nicht nur eine Spezialität anbieten, Pizza alla romana, und zwar in verschiedenen Variationen? Und trotzdem ist es gebacken!«
Die Aufregung in Linas Stimme ließ Edith Anne gerade lange genug aufwachen, um zur Unterstützung ein unterdrücktes Wuffen von sich zu geben. Flecki-Floh von und zu übte sich in der angeborenen Fähigkeit von Katzen, den Hund komplett zu ignorieren.
Lina tätschelte den Kopf der Bulldoge und las währenddessen das Rezept für den Teig.
Weil dieser Teig so wenig Hefe benötigt und zum Gehen so lange braucht, kann eine Göttin die Vorbereitung gut in ihren geschäftigen Alltag integrieren, indem sie den Teig abends mit kaltem Wasser ansetzt und ihn direkt nach dem Verkneten in den Kühlschrank stellt. Am nächsten Morgen deponiere man ihn an einer kühlen Stelle, wo er langsam
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