Göttin des Frühlings
Verstand.
Zu stark ist die Liebe und zu verlockend.
Ich flehe dich an: Gib mir, was mein ist.
Dann webe erneut den Stoff ihres Lebens,
das endete vor der Zeit.
Nur eine Bitte ich habe an dich:
Gib sie mir wieder zurück.
Dein soll sie sein, wenn ihr Leben erfüllt.
Denn oh, oh, ich liebe sie so,
und der Schmerz des Verlusts bringt mich um den Verstand.
Orpheus’ Gesang verklang, doch seine Finger zupften weiter die sanfte, süße Melodie. Linas Herz tat weh. Seine Musik bewegte sie, wie sie noch nie bewegt worden war. Ihre Wangen wurden feucht, und sie berührte ihr Gesicht, wischte die Tränen ab, von denen sie gar nichts bemerkt hatte.
Sie schaute auf den schweigenden Gott neben sich. Auch in seinem Gesicht spiegelte sich der Kummer dieses Sterblichen. Hades wollte etwas sagen, dann besann er sich eines Besseren. Langsam drehte er den Kopf, bis sein dunkler Blick Linas tränenerfüllte Augen traf.
»Du darfst entscheiden. Ich habe dir das nächste Urteil überlassen, doch selbst wenn ich das nicht getan hätte: Eurydike hat sich zum Dienst an dir verpflichtet. Nur du kannst sie entbinden; daher hast du zweifach die Macht, über ihr Schicksal zu entscheiden. Wähle weise, Göttin des Frühlings«, sagte Hades mit einer Stimme, in der sich das Gefühl aus Orpheus’ Lied widerspiegelte.
Bebend sog Lina die Luft ein. Zum ersten Mal spürte sie die eindrucksvolle Verantwortung, die mit dem Götterdasein einherging. Eurydikes Zukunft hing von ihrer Entscheidung ab. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um, damit sie dem Mädchen ins Gesicht sehen konnte.
Eurydikes schlanke Gestalt war völlig starr geworden. Ihre einzige Regung waren die Tränen, die feuchte Spuren auf ihrem farblosen Gesicht hinterließen und unablässig auf den hauchdünnen Stoff ihres Gewands tropften.
»Wie bist du gestorben?«, frage Lina leise.
Doch Eurydike antwortete nicht. Stattdessen wurde Orpheus’ Melodie düsterer, untermalte die Worte, die er nun sprach.
»Nur einen Monat nach unserem Hochzeitstag gingen wir spazieren bei Mondschein. Eurydike wurde von mir getrennt, verirrte sich im aufkommenden Nebel. Sie wählte den falschen Weg. Statt sie zu mir zu führen, ihrem liebenden Mann, brachte der Pfad sie zu einem Nest von Nattern, wo sie ihr frühzeitiges Ende fand.«
Obwohl Orpheus nicht sang, klangen seine Worte lyrisch. Lina spürte, wie sich ein trauriger Bann über sie legte. Aufs Neue weinte sie über Eurydikes tragischen Tod. Das also war die falsche Wahl, die das Mädchen getroffen hatte, und der Verlust ihres jungen Mannes war der Preis, den sie dafür gezahlt hatte – ein Preis, der immer noch schwer auf ihrer Seele lastete. So schwer, sah Lina, dass Eurydike sprachlos vor Kummer bei Orpheus’ Auftritt geworden war.
Lina griff nach der Hand des kleinen Geistes. Sie war kalt, und Lina spürte das stille Beben, das den zarten Körper erschütterte.
»Ich gebe dich frei«, sagte Lina unter Tränen. »Mögest du in das Leben mit deinem Mann zurückkehren. Jetzt verstehe ich deine Traurigkeit, und ich freue mich, dass ich dir helfen kann.«
Eurydike gab einen überraschten Laut von sich. Ihr Körper zitterte sichtlich, ihr Mund verzerrte sich vor Leid.
»Ach, Schätzchen! Sorge dich nicht um mich. Ich komme gut zurecht. Iapis wird sich um mich kümmern, und Hades ebenso.« Lina drückte dem Mädchen die Hand und bat Hades mit einem Blick um Unterstützung.
Der dunkle Gott beobachtete Eurydike genau.
»Persephone hat gesprochen. Ich beuge mich ihrem Entschluss. Doch ich stelle eine Bedingung.« Sein Blick durchbohrte Orpheus. »Eurydike darf nur dann ins Land der Lebenden zurückkehren, wenn du dich nicht nach ihr umsiehst; du musst darauf vertrauen, dass sie dir folgt. Wenn du diesen Palast hinter dir lässt, darfst du sie erst wieder anschauen, wenn sie mein Reich verlassen hat und mit beiden Beinen in der Welt der Sterblichen steht.«
»Ich werde mich an deinen Wunsch halten. Sie wird mir folgen, daran hege ich keinen Zweifel.« Tief verbeugte sich Orpheus vor Hades und Lina. »Von nun an werde ich Loblieder auf euch singen und eure Güte rühmen.« Sein Blick fing Eurydike ein, und seine Worte wurden zu lieblicher Musik.
Folge mir, folge mir …
Auf ewig wir werden beisammen sein …
Du bist mein, du bist mein …
Auf ewig wir werden beisammen sein …
Orpheus entlockte seiner Harfe magische Klänge. Mit einem letzten durchdringenden Blick auf seine Frau drehte er sich um, sang sein Sirenenlied und
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