Göttin des Frühlings
großer Gott. Wir sind gekommen, um die Göttin des Frühlings anzubeten und ihr zu danken, dass sie unser Flehen erhört hat. Wir sind zu lange ohne den Beistand einer Göttin gewesen.« Die Alte machte eine Handbewegung, und mehrere junge Frauen standen auf und traten vor. In ihren Röcken trugen sie Sträuße frisch geschnittener Blumen, die sie Lina zu Füßen legten.
Hades sah Lina mit hochgezogener Augenbraue an. Er schwieg. Offenbar wollte er sich an sein Wort halten und ihr überlassen, auf die Situation zu reagieren.
Sie räusperte sich und zwang ihre Hand, die hektisch durch ihr Haar fahren wollte, auf der Armlehne des Stuhls zu ruhen. Sie war eine Göttin, ermahnte sie sich zum zigsten Mal. Göttinnen zupften sich nicht nervös am Haar herum – zumindest nicht öffentlich.
»Na, das ist aber eine Überraschung. Ich weiß euer Kommen zu schätzen, und die Blumen sind wunderschön.« Lina neigte ihren Kopf dem kleinen Geist neben sich zu. »Eurydike wird sie für mich in Wasser stellen, und ich werde mich an ihnen erfreuen.«
Die Frauen lächelten und murmelten glücklich. Allmählich entspannte sich Lina. Offenbar waren sie lediglich zufriedene Gratulanten. Nicht mal eine Bäckerin aus Tulsa konnte das jetzt noch verbocken.
»Du wirst die Unterwelt doch nicht schon wieder verlassen, Persephone, oder?«, fragte die alte Frau.
»Nein«, sagte Lina bestimmt. »Ich werde nicht so schnell wieder gehen.« Sechs Monate waren gewiss nicht »schnell«.
Die Geister raunten vor Erleichterung.
»Wir sind so froh, Göttin …«, begann die alte Frau, verstummte aber, als ein betörender Klang durch den Saal schwebte.
Lina blinzelte überrascht. Die Töne umfingen sie von allen Seiten. Musik. Und zwar unglaublich schöne Musik. Verzaubert lauschte sie den Noten, die sich emporschwangen und herabsinken ließen wie kunstvoller Vogelgesang. Als der Klang näher kam, wurde er zu einem melodiösen Plätschern. Zeitweise glitt er säuselnd über Kieselsteine in einem klaren Bach, dann toste er an den steilen Ufern der Sinne entlang, und wieder andere Töne rauschten kraftvoll einen rhythmischen Wasserfall von Klängen hinab.
»Iapis?« Hades’ Stimme drang durch die Musik, so dass Lina die Stirn runzelte und sich wünschte, er würde einfach still sein.
»Mein Herr, ich habe nicht …«
Der Daimon sprach nicht weiter, da nun der Musiker den Thronsaal betrat. Er ging auf das Podest zu, die Frauen machten ihm Platz und ließen ihn durch. Lina betrachtete ihn, immer noch verzückt von seiner wundervollen Musik. Er war ein durchschnittlicher, normal aussehender Mann, der eine kleine Harfe aus vergoldetem Holz spielte. Ebenfalls golden waren sein Haar und der edle Stoff, in den sein Körper gehüllt war. Eine gebräunte, muskulöse Schulter blieb frei. Beim Näherkommen zauberte er magische Töne aus seiner Harfe. Dazu summte er eine beschwingte Melodie, und Lina stellte verwundert fest, dass der junge Mann seine Aufmerksamkeit weder auf Hades noch auf sie richtete. Stattdessen blickten seine Augen lodernd auf den Platz links neben ihr.
»Wie kann es ein lebender Mann wagen, die Unterwelt zu betreten?« Hades’ Stimme durchschnitt die Musik, die daraufhin sofort verstummte.
Lina erschrak. Kein Wunder, dass der Jüngling so normal auf sie gewirkt hatte. Er war lebendig.
»Wer bist du?«, dröhnte Hades.
Die Antwort kam von dem kleinen Geist, der links neben Lina stand.
»Das ist Orpheus. Mein Mann.«
13
Eurydikes Stimme war heiser vor Entsetzen. Linas Blick huschte zu ihr hinüber. Mit großen runden Augen starrte der Geist den Mann an. Jegliche Farbe hatte Eurydikes Gesicht verlassen.
»Mit welchem Recht betrittst du das Reich der Toten?«, wollte Hades wissen.
Orpheus riss den Blick von seiner Frau los. Er verbeugte sich vor Hades und Lina. Dann ließ er die Finger zart über die Saiten gleiten, als prüfe er ihre Bereitschaft zu klingen. Schließlich sprach er und begleitete seine Worte mit sanft gewebten Noten. Seine Stimme war der Zauber, der sie zusammenhielt.
O Hades, du Herrscher der dunklen Welt,
ein jeder muss zu dir, der ward geboren.
Zu dir kehrt alles Schöne zurück.
Der Schuldner bist du, dem niemand entkommt.
Begrenzte Zeit nur wir weilen auf Erden.
Dein sind wir dann auf immer und ewig,
doch ich suche die eine, die kam vor der Zeit.
Gepflückt ward die Knospe, eh sie erblühte.
Ich trug meinen Schmerz, doch ich liebe sie so,
und der Schmerz des Verlusts bringt mich um den
Weitere Kostenlose Bücher