Göttin des Lichts
unten tanzte, war niemand anderes als Artemis, seine Schwester. Ganz still saß er da und versuchte, einen Ausdruck höflicher Bewunderung auf sein Gesicht zu zwingen.
Er hatte es gewusst! Die ganze Vorstellung über hatte er schon das Gefühl gehabt, dass sie in ein olympisches Netz der Erotik geraten waren. Und jetzt verstand er endlich, warum: Die Göttin der Jagd persönlich beehrte die hier versammelten modernen Sterblichen. Obwohl sie für gewöhnlich den Wald und die Freiheit über alles schätzte, entsprach das Gerücht, dem sie mit ihrer unabhängigen Lebensweise Vorschub geleistet hatte, nicht der Wahrheit. Artemis war keine jungfräuliche Göttin, sie war, wenn sie wollte, eine vorzügliche Verführerin. Was sie heute Abend vorhatte, war offensichtlich. Sie wollte dafür sorgen, dass die Beschwörung erfüllt wurde, deshalb hatte sie die sterblichen Darsteller großzügig mit göttlichen Kräften gesegnet und ihre Reize ebenso verstärkt wie die sexuelle Spannung des Publikums. Apollo musste zugeben, dass es eine clevere Idee war – irritierend, aber clever.
Auf einmal stieß das Publikum erneut einen kollektiven Schrei des Erstaunens aus, denn nun kam eine kleine, muskulöse Gestalt auf die Bühne gerannt. Auch Apollo sperrte überrascht die Augen auf. Ein Satyr! Zwar steckten seine Hufe in Stiefeln und das Fell seiner Beine war unter einer Seidenhose verborgen, aber Apollo erkannte ihn dennoch. Der blonde Scheitel der Kreatur reichte nicht höher als bis zu Artemis’ Taille, aber seine nackte Brust und seine Arme waren so muskulös, dass er fast wie einer der Titanen wirkte, als er die Göttin zu sich winkte. Dann wickelte er die Enden des scharlachroten Schals um seine Arme, so dass auch er über der Bühne schwebte – und nun begann eine erotische Jagd. Weit schwangen die beiden sich in den Saal hinaus, der Satyr lockte und schmeichelte, streichelte und verführte, bis die Göttin sich von ihm einfangen ließ und die beiden sanft auf die Bühne herabschwebten. Das Publikum war hingerissen, und noch immer schockiert musste Apollo zusehen, wie seine Schwester dem Waldwesen gestattete, sie in die Arme zu schließen und zu küssen. Niemals hätte sie auf dem Olymp eine so direkte, öffentliche Darstellung von Körperlichkeit geduldet. Eng umschlungen verließen die beiden exquisiten Götterwesen schließlich die Bühne. Im Zuschauerraum war es ein paar Sekunden totenstill. Alle starrten auf die Stelle, wo die Göttin verschwunden war. Apollo war der Erste, der sich aus dem verführerischen Bann seiner Schwester löste, doch bald gesellten sich zu seinem Applaus tumultartiges Geschrei und laute Jubelrufe.
Die Lichter im Saal gingen an, aber bevor das Publikum aufstehen konnte, kamen die Schauspieler, angeführt von Artemis, noch einmal auf die Bühne zurück. Die Jagdgöttin wandte sich an die Zuschauer.
»Wir grüßen euch, Romantiker und Freunde, und hoffen, dass euch unser kleiner Tribut an die Liebe gefallen hat.« Ihre Stimme war wie Honig und zog die Sterblichen unwiderstehlich in ihren süßen Bann. »Bevor ihr aufbrecht, würde ich gerne ein paar von euch kennenlernen – wenn ihr so nett wärt.«
Schrille Warnglocken bimmelten in Apollos Kopf, aber die Aufregung fegte wie ein heftiger Wind durch die Menschenmenge.
Die Göttin lächelte, als wäre es für sie alltäglich, vor einem Saal moderner Sterblicher zu stehen. Dann begann sie, Einzelne unter ihnen anzusprechen, fragte nach ihren Namen, wählte errötende junge Ehepaare und Neuvermählte aus, besprenkelte sie mit der Magie ihrer verführerischen Stimme quer durch den Saal. Nur ein einziges Mal blickte sie hinauf zu der Galerie, wo Apollo und Pamela saßen, und ganz kurz trafen sich ihre Blicke – lange genug, dass Apollo das Vergnügen in den kühlblauen Augen seiner Schwester blitzen sah. Fast unmerklich bewegte sie die Hand, und plötzlich spürte Apollo den warmen Regen ihrer Magie auf seiner Haut. Sein Körper fühlte sich erhitzt und schwer an, und Pamela reagierte sogar noch heftiger. Fast unbewusst packte ihre Hand Apollos Schenkel, drückte sich an ihn und blickte ihm tief in die Augen. Ihr Atem wurde schneller, und ihre Lippen öffneten sich mit einem Stöhnen, das nichts anderes war als eine Einladung.
Er fluchte im Stillen, nahm sie jedoch einfach fester in den Arm und konzentrierte sich wieder auf die Bühne. Er konnte sie jetzt nicht küssen. Unter dem Zauberbann seiner Schwester wären sie beide nicht in der Lage
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