Gohar der Bettler
und einfach. Er brauchte sich nur umzusehen, um sich davon zu überzeugen. Das wimmelnde Elend, das ihn umgab, hatte nichts Tragisches; es schien einen geheimnisvollen Überfluß in sich zu bergen, die Schätze eines unerhörten und ungeahnten Reichtums. Eine wunderbare Sorglosigkeit schien das Schicksal dieser Menge zu lenken; alle Verworfenheiten erhielten hier den Charakter der Unschuld und der Reinheit. Gohar fühlte sich von einer brüderlichen Zuneigung erfüllt; die Nichtigkeit dieses ganzen Elends begegnete ihm auf Schritt und Tritt und entzückte ihn.
Eine gelbe Straßenbahn fuhr mit höllischem Lärm durch die Straße; sie ließ unaufhörlich ihre Glocke ertönen, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die die Schienen versperrte. Gohar ging an einem Restaurant vorüber, in dem es gekochte dicke Bohnen gab; der Essensduft verursachte bei ihm ein leichtes Unwohlsein; er blieb stehen, stützte sich auf seinen Stock und wartete. Nein, es war nicht der Hunger. Hunger zeitigte bei ihm keine Wirkung, er konnte mehrere Tage lang nur von einem Stück Brot leben. Dieses Unwohlsein bedeutete etwas anderes. Er machte einige Schritte, begriff die Ursache für sein Unwohlsein und war beunruhigt. Die Droge! Er hatte die Droge vergessen. Der Tod dieses unwissenden Nachbarn hatte seine Gewohnheiten gewaltig durcheinandergebracht. Gohar erwachte gewöhnlich erst nach Einbruch der Dunkelheit; es war noch zu früh, um sich die Droge zu besorgen. Sein einziger Lieferant war Yeghen, und den konnte er erst am Abend treffen. Es war ausgeschlossen, ihn jetzt zu finden; Yeghen hatte keinen festen Wohnsitz, er wohnte nirgendwo.
Wie sollte er ohne Droge bis zum Abend durchhalten? Diese Aussicht erschreckte ihn ein wenig; er würde leiden, das war ihm klar, und er bereitete sich gelassen auf dieses Leiden vor. Er nahm ein kleines zerknittertes Tütchen aus seiner Tasche, holte eine Pfefferminzpastille heraus und begann sie langsam und eifrig zu lutschen. Sie hatte nicht den herben Geschmack des Haschischkügelchens, aber dieser Ersatz reichte, um ihn zu beruhigen.
Ein wenig weiter lächelte er, als er den unausbleiblichen Bettler erblickte, der in seiner gewohnten Ecke hockte. Es war immer dasselbe Ritual: Jedesmal wenn er an ihm vorüberging, hatte Gohar kein Geld; also entschuldigte er sich, und es entwickelte sich ein amüsantes Gespräch zwischen ihnen. Gohar kannte ihn seit langem und schätzte seine Gesellschaft. Er war ein Bettler ganz besonderer Art, denn er klagte nicht und litt an keinem Gebrechen. Er strotzte im Gegenteil vor Gesundheit, und sein tadelloser Djellaba war fast sauber. Er hatte den bohrenden Blick eines professionellen Bettlers, der die Fähigkeit besitzt, seinen Kunden auf Anhieb richtig einzuschätzen. Gohar bewunderte ihn, weil er nicht einmal daran dachte, den Schein zu wahren. In dem allgemeinen Durcheinander schien niemand seinem Zustand eines gesunden und blühenden Bettlers Bedeutung beizumessen. Inmitten so vieler tatsächlicher Absurditäten erschien das Betteln wie eine Arbeit unter anderen, die einzige vernünftige Arbeit im übrigen. Er saß immer auf demselben Platz, mit der gleichen Würde wie ein Beamter hinter seinem Schreibtisch. Die Leute warfen ihm im Vorübergehen einen Obolus zu. Manchmal fuhr er den Spender an: er hatte gerade eine falsche Münze bekommen. Dann begannen nicht enden wollende Palaver, bei denen die Beleidigungen das Gewicht der Ewigkeit hatten. Er sprach davon, die Polizei zu rufen. Die Sache ging immer zu seinen Gunsten aus.
Gohar blieb stehen, um ihn zu begrüßen.
»Sei gegrüßt«, sagte der Bettler. »Ich sah dich schon von weitem kommen; ich habe dich erwartet.«
»Ich bitte um Vergebung«, sagte Gohar. »Ich habe kein Geld; beim nächsten Mal.«
»Wer hat dir gesagt, daß ich Geld will?«
»Warum nicht? Ich glaube fast, du verachtest mich.«
»Fern liegt mir dieser Gedanke«, verwahrte sich der Bettler. »Allein dich zu sehen entzückt mich; ich plaudere gern mit dir. Deine Gegenwart ist mehr wert als alle Schätze der Erde.«
»Du schmeichelst mir«, sagte Gohar. »Gehen die Geschäfte gut?«
»Gott ist groß!« antwortete der Bettler. »Aber was zählen schon die Geschäfte. Es gibt so viele Freuden im Leben. Kennst du nicht die Geschichte von den Wahlen?«
»Nein, ich lese keine Zeitung.«
»Diese Geschichte stand nicht in der Zeitung. Jemand hat sie mir erzählt.«
»Also, ich höre.«
»Nun! Sie ereignete sich vor einiger Zeit in einem
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